Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Das fehlende „Wir“ der modernen Demokratie

Mai 2021

Demokratie ist zu einem Allgemeinplatz verkommen, der für leider zu viele Menschen an Attraktivität verloren hat, als dass sie sich auf diesem Platz mutig und wehrhaft zusammenfinden, um diese – ihre – Regierungsform zu verteidigen. Im Gegenteil, es finden sich in Kellern, (Staatsverweigerer) auf Plätzen oder in Straßen (Covid-Verleugner und andere mehr) und sogar im Kapitol in Washington Menschen zusammen, um gegen die Demokratie zu demonstrieren, zu protestieren und sich sogar mit Gewalt gegen sie zu wehren. Wobei unterschieden werden muss, zwischen jenen, die Demokratie als solche (etwa Reichsbürger) oder in Form der jeweiligen staatlichen Organisation (zum Beispiel Staatsverweigerer) ablehnen, und jenen, die behaupten, dass ihnen die Wahl „gestohlen“ wurde und infolgedessen den Rechtsstaat mit seinen gerichtlichen und verwaltungsmäßigen Strukturen in Frage stellen (wie die Anhänger Trumps im Kapitol) und sich damit legitimieren, die Exekutive samt der Legislative anzugreifen und sie auszuschalten versuchen, nachdem sie der Judikative ihr Vertrauen entzogen hatten. Während die ersten beiden Gruppen sich außerhalb des „Wir“ in der Demokratie stellen, sehen sich die Dritten geradezu als die Verteidiger der Demokratie und stellen sich selbst als „Hüter und Retter der demokratischen Wahlen“ als selbsternannte, gewaltbereite, fragwürdige „Elite“ über oder an die Spitze des demokratischen Volkes, ohne deren Legitimation erlangt zu haben. Genau diese Legitimation ist aber das Wesen von Demokratie und diese kann immer nur in Verbindung mit einem Rechtsstaat funktionieren. Was aber immer und jederzeit gegen alle drei genannten Gruppen notwendig erscheint, ist die Tatsache, dass es eine Demokratie gibt, in der das demokratische Volk ein „Wir“-Gefühl besitzt, das getragen ist von dem Umstand, eben eine Demokratie zu sein und diese auch zu verteidigen. Das geschah in Washington durch die drei staatlichen Gewalten genauso wie in Österreich oder in Deutschland gegen die ersten beiden Gruppen. Es mag dem einen oder anderen zu zaghaft, zu langsam oder auch zu wenig investigativ geschehen, und dem einen oder anderen sind die zwölf Jahre Haft für eine Präsidentin der Staatsverweigerer aus Vorarlberg zu hart, aber der Staat wehrt sich und die Urteile werden vollzogen und akzeptiert.
Demokratie als Ideologie mit Ideologieverlust
Die Idee der Demokratie ist alt, aber ihr Kampf der Durchsetzung auch, und wir können in Österreich oder in Deutschland noch nicht einmal auf 100 Jahre gelebte Demokratie zurückblicken und vielleicht sollten wir auch deshalb mehr auf sie achten und uns an ihr beteiligen. Denn nicht nur die Maßnahmen zur Corona-Epidemie oder die Migrationskrise kratzen an der Akzeptanz der Demokratie in immer größer werdenden Kreisen der Bevölkerung, sondern noch viel mehr wird die Demokratie daran zu messen sein, wie sie mit dem Klimawandel (hoffentlich) erfolgreich umgehen wird. Erinnern wir uns an die Anfänge der Corona-Epidemie in China und deren rigide Lockdowns, die wir wohl fast alle noch vor einem Jahr in unseren Landen für nicht demokratisch durchführbar hielten. Ein Jahr später müssen wir uns fragen, was ist der Bevölkerung in unserer Demokratie noch zumutbar, ohne die bröckelnde Akzeptanz zu verlieren? Die Pandemie ist eine demokratische Zumutung, formulierte es die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Aber vor allem wie lange und wie streng dürfen und können die Maßnahmen und der damit einhergehende Schaden sein, beziehungsweise wo wird wie und wie streng sanktioniert, damit die Maßnahmen für alle gelten? Es haben sich in unserer Demokratie neue Trennlinien aufgemacht, die bei genauerem Hinsehen schon länger da waren. Zum Beispiel zwischen jungen, kaum gefährdeten Menschen, denen Bildung und altersgemäße soziale Kontakte fast verwehrt werden, und der älteren, der sogenannten vulnerablen Bevölkerung? Zwischen jenen, denen die Krise finanziell weniger Schaden zufügt, und jenen, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind. Da bilden sich neue Gruppen mit einem spezifischen „Wir“-Gefühl heraus, die oft ihre eigene Verletzlichkeit oder ihr eigenes Gruppenwohlergehen über das der anderen stellen. Und diese neuen Trennlinien gehen quer durch die ehemals ideologischen Parteien hindurch. Vor allem viele junge Menschen können mit Parteiideologie und Parteiprogrammen nichts mehr anfangen, kennen sie nicht einmal und sind stolze Nicht- oder Wechselwähler. Gewählt wird was der eigenen Gruppe oder des eigenen Wohlbefindens gemäß am meisten zuträglich scheint. Demokratie ist dann genau so lange „gut“, so lange sie für das Individuum die richtige Entscheidung für die eigenen Ansprüche und das eigene Wohlergehen mit sich bringt. Das beginnt bei der Ortsumfahrung in der Gemeinde und hört bei den Covid-Maßnahmen noch lange nicht auf. Das „Wir“ in der Demokratie sind alle Bürgerinnen und Bürger, die den Blick auf das Wohlergehen und die Entwicklung für die gesamte Bevölkerung – und letztlich sogar auf die Menschheit – richten muss. 
Die Mehrheit, die Minderheit
und trotzdem „Wir“
Letztlich haben alle ernsthaften und überzeugten Demokraten, Republikaner, Konservative, Liberale, Grüne … einen gemeinsamen Feind – jene, die die Demokratie und den Rechtsstaat nicht mehr anerkennen. Dagegen muss ein gemeinsames „Wir“ als Verteidiger der Demokratie ihres Wertes bewusst sein und sich gegen die Demokratiefeinde mutig und entschlossen stellen, und jeder einzelne darf sich nicht von der Demokratie abwenden, auch wenn demokratisch legitimierte Entscheidungen schmerzen. Letztlich zählt die argumentative Überzeugungskraft in demokratischen Auseinandersetzungen und eben auch das Akzeptieren, wenn die Mehrheit anderer Meinung ist. Dagegen können immer noch demokratische und rechtsstaatliche Mittel zur Anwendung kommen, aber letztlich ist die Demokratie die Entscheidungsmacht der Mehrheit und die hat sich auch um die Unterlegenen zu kümmern, denn es ist die Gesellschaft aller, mit dem Anspruch, dass wir alle die Demokratie sind und ausmachen. Jedem „Wir“, das andere dermaßen ausgrenzt, dass es sie abwertet oder vernichten will, sollten Demokraten misstrauen. Im Wissen um den möglichen Verlust der Demokratie brauchen wir überzeugte Demokraten, denen die Demokratie wichtiger ist als der kurzfristige individuelle Vorteil oder die Hetze durch demokratisch gewählte Politiker wie den Ex-Innenminister der FPÖ oder den ehemaligen Präsidenten der USA. Das Vertrauen in eine der ältesten Demokratien hat sich bewährt, Demokraten und Republikaner, auf allen politischen Ebenen, stehen letztlich für ihre Demokratie ein und haben den Mob aus dem Kapitol entfernt. Die Zumutungen für die Demokratie werden bleiben, der Klimawandel lässt grüßen, umso mehr ist das „Wir“-Gefühl der Demokraten gefordert.

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