Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Der kulturelle Selbstmord des Westens oder „Erwache!?“

Mai 2021

Das Jahr 2021 ist Dante Jahr. 700 Jahre sind vergangen seit einer der größten Dichter der Renaissance, Dante Alighieri, verstarb. Mit seiner „Göttlichen Komödie“ schenkte er der Menschheit eines der berühmtesten Werke der abendländischen Literatur. In den Niederlanden erschien nun eine neue verstümmelte Ausgabe des weltberühmten Werkes. Die Göttliche Komödie und ihr „Inferno“ wurde um die Passagen über Mohammed gekürzt. Der Verlag begründete diesen Vandalenakt damit, Muslime nicht unnötig verletzen zu wollen. Dieser beschämende Akt von feiger Selbstzensur wurde allerdings zu keiner Zeit von muslimischer Seite gefordert. Zur Diskussion steht eine Verleugnung unseres kulturellen Erbes, indem in vorauseilendem Gehorsam dem irren Fanatismus des grassierenden „Wokeaktivismus“ nachgegeben wird.
Orwell lässt grüßen. Die Schlachtfelder der sogenannten Wokekultur (woke meint „Erwache“, na ja!) überziehen zunehmend die gesamte Kultur und Kunst und drangsalieren mit ihrem selbstgerechten Moralismus von heute selbst die Vergangenheit. Dabei werden weltfremde Sensibilitäten zum Maßstab gemacht, die wiederum von privilegierten, akademisch-westlichen Milieus konstruiert werden. So darf Othello nicht mehr von Weißen gespielt werden. Selbstredend, dass Indianerhäuptlinge im Kinderfasching tabu sind und eine grüne Berliner Spitzenkandidatin nach scharfen Angriffen für ihr Bekenntnis zu diesem Kindertraum Abbitte leisten musste.
Das zur Angelobung von Joe Biden vorgetragene Gedicht von Amanda Gorman „Den Hügel hinauf“ darf nicht von Weißen, sondern muss von einem „diversen“ Proporzteam übersetzt werden, was zwar identitätspolitisch korrekt, aber der Qualität des Textes zutiefst abträglich ist. Man fragt sich polemisch: Dürfen in Hinkunft Texte von Franz Michael Felder nur mehr von Bregenzerwäldern übersetzt und interpretiert werden? Dürfen über Burgenländerwitze nur mehr Burgenländer lachen und dürfen Mörder nur mehr von Mördern gespielt werden?
Dass Dante auch mit Päpsten nicht zimperlich umging, durchaus aber Saladin huldigte, Schwamm drüber, passt nicht ins Opferschema. Bei so viel blindem und ignorantem Eifern lässt die aberwitzige Schlussfolgerung wohl nicht mehr lange auf sich warten, dass Dante, der im Kampf zwischen den „weißen“ und „schwarzen“ Guelfen die Position der Weißen einnahm, klarerweise auch ein Rassist war. Aber historische Differenziertheit oder gar Bildung hat im Weltbild der neuen „Jakobiner des Guten und Gerechten“ ausgedient. So soll an manchen US-Universitäten die klassisch philologischen Studien (so einfach, so klar: „Weiße Antike“) abgeschafft werden, da diese nur die weiße Vorherrschaft („white supremacy“) prolongieren. An deren Stelle sollen wohl Gender- oder postkoloniale Studien ausgebaut werden. Deren Absolventen können dann unbelastet von intellektuellen Vorurteilen ausrücken, um Eröffnungsreden für den Kongress der Vereinigten Staaten wie jene von Pastor Emmanuel Clever, die dieser mit „A-men“ und „Wo-men“ beendete, zu legitimieren. Dass Amen aus dem hebräischen Tanach kommt und als eine Akklamationsformel auch von Christen und Muslimen verwendet „sich verankern, sich ausrichten“ bedeutet, ist da natürlich irrelevant. 
Doch nicht nur Weltliteratur wird zensuriert, sondern auch Leute, die eine andere Meinung haben als das Meinungskartell der Anti-Rassismus-Profiteure, werden systematisch gecancelt: ob dies Linke wie Sahra Wagenknecht oder Kritiker wie Hamed Abdel-Samad oder Necla Kelek sind. An den Universitäten haben liberale Professoren längst Angst, ihre liberale Gesinnung zu zeigen.
Eigenartigerweise geht es dabei aber ausschließlich um unsere Kultur und Geschichte, durch die Homophobie, den Rassismus oder die Frauenfeindlichkeit in anderen Kulturen scheint sich niemand verletzt zu fühlen. Eine Gesellschaft, die die Selbstgerechtigkeit und neuen Sprech- und Denkverbote von Wokismus und Identitätspolitik nicht entschieden bekämpft, ist dabei, kulturellen Selbstmord zu begehen. Dass Gegenwehr und Empörung nicht umsonst sind, zeigt das niederländische Beispiel. Nach einem Sturm der Entrüstung nahm der Verlag den gestrichenen Text wieder auf. Doch weit reichte das bisschen Anflug von Mut nicht. Der Text wurde vorsichtshalber mit einer kommentierenden Fußnote versehen.

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