Der Terror der Utopie
Wie lässt sich verhindern, dass man in die Utopiefalle tappt, obwohl man Reformbedarf bejaht?
Der 200. Geburtstag von Karl Marx, der selbst in liberalen und konservativen Zirkeln fast unanständig festlich zelebriert wurde, liegt hinter uns. Die geistige Leistung des Mannes aus Trier verdient ohne Zweifel Achtung, seine Wirkungsmacht ist unbestritten. Die Verheerungen, die von ihm ausgingen, sind aber so schrecklich, dass es doch erstaunt, mit welch lässiger Unbekümmertheit vielerorts seiner gedacht wurde. Marx’ Wirkungsgeschichte führt uns nämlich vor Augen, wie brandgefährlich jener utopische Idealismus ist, der so viele Weltanschauungen prägt. Utopisten jeglicher Couleur leben in zwei Welten, der greifbaren, angeblich schlimmen Gegenwart und der vorgestellten, utopischen Zukunft. Sie messen die Gegenwart an dieser „perfekten“ Zukunft, nicht an der unperfekten Vergangenheit. Daraus ergeben sich zwei gravierende Denkund Handlungsfehler.
Jene, die die Realität an einer Utopie messen, übersehen, erstens, die atemberaubenden Fortschritte, die die Menschheit in zweihundert Jahren erzielt hat, nicht nur in Europa und Nordamerika. Für Utopisten ist das Glas halb leer, nicht halb voll. Dabei hat sich seit Marx’ Geburt weltweit die durchschnittliche Lebenserwartung verdoppelt und das durchschnittliche Einkommen verzehnfacht, Armut und Hunger sind massiv zurückgegangen, und der medizinische Fortschritt erspart den Menschen viel Leid – wer daran zweifelt, besuche ein medizinhistorisches Museum. Und das sind nur Beispiele. Die Geringschätzung des Fortschritts ist politisch verderblich; sie geht einher mit der Verurteilung der auf Unternehmertum und freien Märkten basierenden Ordnung, die ihn ermöglicht hat. Allerdings ist unklar, was Ursache und was Wirkung ist: Lässt es die Verteufelung der freiheitlichen Ordnung nicht zu, anzuerkennen, was diese alles ermöglicht hat, oder führt die pessimistische Sicht dazu, überall Mängel zu sehen und sie dem „System“ anzulasten? Von Gerhard Schwarz Für Letzteres spricht, dass Utopisten, zweitens, nicht erkennen, dass die Welt nie perfekt sein wird, weil die Menschen nicht perfekt sind. Das „Problem“ aller Utopien ist die Unvollkommenheit des Menschen. „Ni ange ni bête“ hat ihn Blaise Pascal beschrieben und angefügt, wer aus ihm einen Engel machen wolle, werde aus ihm leider ein Tier machen. Utopisten tun das. Sie versuchen ihm gegen seine Natur die Ichbezogenheit, die Neigung zu Gier und Neid, den Hang zum Bösen auszutreiben und ihm die Entscheidungsfreiheit zu nehmen. Gerechtfertigt wird dies damit, dass es um das Wahre, Gute und Schöne gehe, wobei klar sei, was darunter zu verstehen sei, oder es eine Gruppe von Menschen gebe, die dies wisse und sich daher durchsetzen müsse. So münden Utopien unter der Guillotine und im Gesinnungsterror. Utopischer Idealismus trägt ein Stück Totalitarismus in sich: „Wer das Gute nicht will, muss dazu gezwungen werden.“
Wo sind „Pfade aus Utopia“ (Ralf Dahrendorf), wie lässt sich verhindern, dass man in die Utopiefalle tappt, obwohl man Reformbedarf bejaht? Es braucht dafür einen Blick durch eine weder rosarote noch eingeschwärzte Brille, und es braucht vor allem immer wieder einmal einen Blick zurück – auch er nüchtern, nicht nostalgisch –, um zu erkennen, dass die Realität keinen Eintausch gegen ungewisse Utopien verdient. Und es braucht statt Machtkonzentration und Zentralisierung eine beharrliche Reformpolitik kleiner Schritte, klein im Ausmaß, in der Breite und der geografischen Ausdehnung. Große utopische Würfe stellen in der Politik immer, diese Erkenntnis kann man aus der Auseinandersetzung mit Marx ziehen, eine Bedrohung für Freiheit und Menschlichkeit dar. Dieser Artikel erschien in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 12. Mai 2018, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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