Die ehemalige Ortschaft Wies auf der Schattenseite des Laternsertales
Wer von Rankweil kommend über den Netschelweg zum Bad Laterns im Laternsertal wandert, wird anfänglich hoch über der Frutz nicht nur an der Wegtafel zur Üblen Schlucht vorbeikommen, sondern auch an einer über einen Aufstieg zur Alpe Wies, auf gut 1000 Meter Seehöhe gelegen.
Was heute eine Alpe ist, war vor 100 Jahren noch eine Walsersiedlung, die bereits im 14. Jahrhundert gegründet wurde, die „Wies“. Eine ganzjährig bewohnte Parzelle der Gemeinde Laterns. Abgeschieden und – im Gegensatz zu den anderen Parzellen – auf der Schattenseite gelegen. Eine Siedlung mit bis zu zwölf ganzjährig bewohnten Häusern, „59 Seelen“, einem Gasthaus, einem Armenhaus bis 1850, einer Schule und einer Kapelle, in der am 4. März 1926 die letzte Messe gelesen wurde. Trotzdem mussten die „Wiesler“ Kinder zum Religionsunterricht in die Kirche nach Laterns-Thal auf der gegenüberliegenden Talseite. Ein langer, steiler und gefährlicher Weg mit einem Steg über die Frutzschlucht. Das galt auch für die Beerdigungen, denn Friedhof gab es auf der Wies keinen. Auf diesem Weg findet man eine Gedenktafel an einen Lehrer, Simon Drexel, der dort 1915 auf dem steilen Weg tödlich verunglückte, sowie mehrere meist jüngere Holzarbeiter, an die alte, fast unleserlich gewordene Gedenktafeln erinnern. 1926 wurde diese Siedlung – nach mehr als 500 Jahren – aufgegeben, oder besser gesagt, von der Gemeinde Laterns aufgelöst. Denn diese begann ab 1898 durch den Ankauf von Höfen auf der Wies eine langsame Entsiedelung. 1925 wurde die Schule geschlossen und 1926 mussten die letzten Bewohner die Siedlung verlassen. Einer von ihnen war Werner Vith, geboren auf der Alpe Wies 1916. Dessen Erinnerungen hielt sein Sohn Hanspeter in einem kleinen, aber feinen Büchlein fest. Das Geld für die Ablöse der noch letzten Bewohner erhielt die Gemeinde aus dem Holzverkauf, nachdem bei einem starken Windwurf 1925 circa 15.000 Festmeter Holz anfielen.
Der Exodus
Die Familie von Werner Vith fand in Sulz ein Haus, das sie erwerben konnten. Offenbar waren die Ablösen der Gemeinde Laterns für die dortigen Höfe so hoch, dass die Viths das stattliche Haus in Sulz schuldenfrei kaufen konnten. Die Mutter sei sehr an der Wies gehangen und nur die freie Sicht von Sulz auf ihre geliebten Berge, den Hochgerach und den Muttkopf, habe sie überzeugen können. Dennoch habe sie den Exodus so lange wie nur möglich hinausgezögert. Am 4. Jänner 1926 seien sie talauswärts gezogen. Dort, wo man nicht mehr zur Wies zurücksah, sei die Mutter im Schnee gesessen und habe lautlos geweint, und die Kinder hätten nicht anders können, als auch zu weinen.
Die Alpe Wies
Die Gemeinde Laterns wollte die Parzelle Wies schon seit längerer Zeit als Alpe nützen, was sie auch heute noch ist. Deshalb sei gleich nach dem Auszug der letzten Familien mit dem Umbau begonnen worden, denn schon Ende Mai des Jahres 1926 fand der erste Alpauftrieb statt. Vorher alpten die Wiesler ihr Vieh in den Alpen des Walsertales, im Bregenzerwald oder in Damüls. Heute steht dort nur mehr ein Haus, das für das Alppersonal genutzt wird, ein neuer Stall und natürlich die Kapelle. Diese wurde erst 1874 neu erbaut, weil die, die vor 184 Jahren schon als zweite Kapelle errichtet wurde, zu klein geworden war. Heute ist diese Kapelle immer noch ein stattliches Gebäude mit Zwiebelturm, dem heiligen Martin geweiht und bietet bis zu 50 Menschen Platz. 1986 und 1987 wurde sie mit vielen freiwilligen Helfern grundlegend saniert und immer am 3. Sonntag im Mai wird dort noch heute eine Maiandacht gelesen und von bis zu hundert Menschen aus den umliegenden Dörfern besucht. Die meisten haben wohl einen Bezug zur alten Siedlung Wies. Einige Häuser wurden erst Jahre später zum Abbruch erworben und für den Bau von neuen Gebäuden im Tal draußen verwendet. Erbaut waren sie alle in Strickbauweise mit Balken. Selbst ein Gasthaus hat es dort gegeben und die Wirtin, Anna Maria Schnetzer, habe einem Verkauf ihres Hauses Nr. 156 nur zugestimmt, wenn sie es noch fünf Jahre weiter nutzen durfte, wenn auch nur zeitweise. So sei diese Familie 1930 die letzte gewesen, die von der Wies wegzog. In der Turmkapsel sei in einem Schriftstück „ihr großer Kummer des Wegganges“ festgehalten worden: „… wie das Scheiden von der Wies uns wehe tat. Es ist gerade, als ob es nirgends eine so liebe Heimat gäbe. … doch uns drückts wie Eisen, wenn das Herze tränenschwer, ist schwer das Scheiden.“
Die hintere Wies: Christawald
Wenn man fünf Minuten weiterwandert, an der Kapelle vorbei, kommt man zu einer Alpe, die dem Verfall preisgegeben ist, die Christaalpe. Dort befand sich die „Hintere Wies“, mit dem Namen Christawald. Das stattliche Alpgebäude, es wurde wohl erst 1926 als Kälberstall von der Gemeinde errichtet, verfällt, wird langsam überwuchert und zeugt davon, was geschieht, wenn ein Haus oder eine Alpe nicht mehr gebraucht und dem Verfall preisgegeben wird. Ein Bild der Wehmut, wenn man bedenkt, dass hier einmal Menschen gelebt, gearbeitet, gestritten und geliebt haben. Wer genau hinschaut, kann auch noch in der Vorderen Wies mehrere Mauerreste im Boden finden, wo einst Häuser standen, die diese Parzelle lebhaft und geliebt machten. Auch die vielen immer noch vorhandenen Obstbäume zeugen von einer Zeit, in der eigenes Obst noch geschätzt war. Aber auch diese Bäume sind alt und schon am Ende ihres Lebens angelangt.
Und jetzt?
Aus heutiger Sicht kann man sicher behaupten, dass die Entscheidung der Gemeinde Laterns vor 100 Jahren mutig war – aus raumplanerischer und ökonomischer Sicht. Ob die Entscheidung damals richtig und klug war, bleibe trotzdem dahingestellt. Denn es war ein über 500 Jahre alter Siedlungskern an einem eigentlich privilegierten Hang mit Geländeterrassen, die eine Besiedelung nicht nur ermöglichten, sondern sogar dazu einluden. Welche Rolle das Kirchturmdenken spielte, kann man vielleicht daran ermessen, dass es heute von Übersaxen aus eine LKW-taugliche Straße für die Alpe Wies gibt, für die die „Wiesler“ jahrzehntelang baten, aber Übersaxen war eben nicht Laterns. Eigentlich schade.
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