Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Die Legende um Julius Lott

Mai 2018

Viele Jahre kursierte auch in Vorarlberg das Gerücht, dass der leitende Ingenieur beim Bau des Arlbergtunnels sich das Leben genommen habe. Der ehemalige Bludenzer Bürgermeister Eduard Dietrich machte es sich in den 1960er-Jahren zur Aufgabe, diese Falschmeldung zu korrigieren.

Auslösender Moment für die Aktivitäten Dietrichs war eine Radiosendung im Bayerischen Rundfunk, die am 17. November 1960 unter dem Titel „Wald und Gebirge, die großen Bergtunnel“ ausgestrahlt wurde. Dort wurde berichtet, dass Julius Lott sich wegen einer Liebesaffäre in St. Anton vor seinen Arbeitern das Leben genommen habe. Ein anderes Gerücht, das sogar Eingang in Vorarlberger Schulbücher und in ein Tirol-Lexikon fand, besagte, dass er sich das Leben genommen habe, als klar wurde, dass sich die beiden Enden der gleichzeitig vorangetriebenen Tunnelröhren des Arlbergtunnels nicht treffen würden. Eduard Dietrich, Bürgermeister der Stadt Bludenz von 1945 bis 1970, verspürte die moralische Verpflichtung, die Todesursache Lotts in der Öffentlichkeit richtigzustellen. In einem Brief schrieb er, dass er mit der Familie Lott weder verwandt noch bekannt sei, und er es trotzdem als seine Pflicht erachte, die Ehre eines großen Österreichers, obwohl schon 80 Jahre tot, wiederherzustellen. Er suchte zunächst nach einem Beweis für die tatsächliche Todesursache, um daraufhin alle Stellen zu einer Gegendarstellung zu bewegen, die unrichtige Tatsachen verbreitet hatten. Der gesamte Schriftverkehr blieb in einem Nachlass erhalten und fand so den Weg in die Vorarlberger Landesbibliothek.

Im Gegensatz zu vielen anderen Behörden, die Dietrichs Anfrage ignorierten, antwortete ein Beamter im Auftrag der Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahnen ausführlich. Dr. Sandig schrieb am 14. Dezember 1960, dass seine Nachforschungen ergaben „daß (sic!) die Behauptung, der ehemalige k.k. Oberbaurat Julius Lott hätte seinerzeit Selbstmord begangen, unzutreffend ist. Wie aus der beigeschlossenen, vom evangelischen Pfarramt Wien-Innere Stadt zur Verfügung gestellten Abschrift der Sterbeurkunde von Lott entnommen, ist der Genannte am 24. März 1883 in Wien I., Lugeck Nr. 3, an Miliartuberkulose verstorben. Es konnte auch festgestellt werden, daß die Verwandtschaft Lotts ebenfalls noch in verhältnismäßig jungen Jahren verstorben ist, was auf eine gewisse erbliche Veranlagung schließen läßt (sic!).“ Die Legende vom Suizid Lotts wird mit stichhaltigen Argumenten entkräftet: „Wie ferner einwandfrei nachgewiesen werden kann, ist es unrichtig, daß die Berechnungen Lotts für den Durchstich des Arlberges falsch gewesen seien. Als Julius Lott im Jahre 1883 nach langer Krankheit starb, war der Arlbergtunnel bereits mehr als zwei Drittel seiner Länge durchschlagen und schon ein halbes Jahr nach seinem Tode erfolgte der Stollendurchschlag.“

Else Lott, Nichte von Julius Lott, bedankte sich in ihrem 82. Lebensjahr in einem herzlichen Brief an Eduard Dietrich dafür, dass er sich der Sache so „wunderbar energisch“ angenommen hatte. Sie schreibt 1961: „Es war mir immer ein großer Kummer, dass solch häßliche (sic!) Lügen über ihn verbreitet waren … Wer kann es wohl gewesen sein, der, wohl in eigennütziger Absicht, diese Lügen in die Welt gesetzt hat? Man kann es sich gar nicht vorstellen, wie so etwas möglich sein kann.“

Die Fürsorglichkeit von Bürgermeister Dietrich ging so weit, dass er sogar der betagten Else Lott, Nichte von Julius Lott, zu helfen versuchte, ihren prekären Wohnverhältnissen zu entkommen. Obwohl ihm in dieser Sache kein Erfolg beschieden war, erreichte ihn 1964 ein dankbarer Brief von der jetzt 86-Jährigen: „Heute habe ich die Freude erlebt, im Rundfunk den sehr schönen Vortrag ,80 Jahre Arlbergbahn‘ zu hören. Als Erbauer wurde Julius Lott genannt und gesagt, daß er schon ein Jahr vor der Fertigstellung der Bahn erkrankt war, am 24. März 1883 in Wien gestorben ist und so die Eröffnungsfeier nicht mehr erlebt hat.“

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