Peter Freiberger

Die Toten im Bodensee

Juli 2016

Den Bodensee als riesiges Grab zu bezeichnen, würde seine wunderbaren Seiten in den Schatten stellen. Dennoch – das 536 Quadratkilometer große Gewässer birgt schaurige Geheimnisse in sich. 98 Menschen sind seit Beginn von gemeinsamen Aufzeichnungen der Vorarlberger, Schweizer und deutschen Behörden im See vermisst.

Das Jahr 2015 ging als rekordträchtiger Sommer in die Geschichtsbücher ein. Die Badehungrigen strömten zum Bodensee wie selten zuvor. Die Konsequenz: Es ereigneten sich wesentlich mehr Badeunfälle als in „normalen“ Jahren. „Im gesamten Seegebiet kamen damals allein beim Baden 18 Personen ums Leben“, sagt Andreas Horb, Leiter des Fachbereichs Seedienst in der Polizeiinspektion Hard. Zum Vergleich: 2014 waren es nur vier. Die langjährige Statistik weist durchschnittlich etwas mehr als zehn Tote pro Saison im ganzen See aus (Badetote und Tote nach Schiffs- und Tauchunfällen zusammen).

Für die Angehörigen ist der Verlust eines geliebten Menschen schrecklich, aber sie können wenigstens „abschließen“. Völlig anders sieht es hingegen bei jenen Personen aus, die im See schwammen, tauchten oder mit dem Boot fuhren und spurlos verschwanden. Sie gelten als vermisst, einige von ihnen seit vielen Jahrzehnten. Die Ungewissheit, was mit ihnen passiert ist, ob sie vielleicht doch irgendwann wiederkommen, liegt wie Blei auf den Schultern der Angehörigen.

Gemeinsame Vermisstenliste

1947 haben Österreich, die Schweiz und Deutschland begonnen, gemeinsame Aufzeichnungen über die Vermissten zu führen. Am Ende der grausamen Addition steht eine Zahl, die knapp an der Dreistelligkeit kratzt: Von 98 Menschen fehlt jede Spur! Ein Schweizer, der im Vorjahr im Kanton Thurgau von Bord eines Schiffs fiel, ist einer der „aktuellsten“ Vermissten. Solche Unfälle lösen den internationalen Seenotalarm aus, in der Regel startet dann eine länderübergreifende Such- und Rettungsaktion. Manchmal werden Verunglückte nach zwei bis drei Wochen gefunden. Ob die Leiche des Schweizers jemals – im wahrsten Sinn des Wortes – wieder auftaucht, bleibt freilich ungewiss.

Allerdings: Die Hoffnung, wenigstens die sterblichen Überreste zu finden, sollte nie zu früh aufgegeben werden, wie das spektakuläre Beispiel einer Leiche zeigt, die beim Ausbaggern des Flussbetts in der Rheinmündung zum Vorschein kam. Dahinter verbirgt sich eine fast unglaubliche Geschichte: Der Mann war rund zehn Monate zuvor beim Wandern in der Nähe des Schweizer Orts Landquart abgestürzt und in den gleichnamigen Fluss gefallen. Über die Landquart und den Rhein gelangte der Leichnam schließlich in den Bodensee. Bis heute verschwunden blieb hingegen jener Vorarlberger Segler, der 2011 offenbar über Bord fiel. Während man das Boot führerlos im Uferschilf entdeckte, verlief die Suche nach der Person ergebnislos. Rund um das Unglück tauchten Gerüchte auf, in Wahrheit habe sich der Segler, der allein unterwegs war, abgesetzt. Eine Bestätigung dafür gab es nie.

Einer der tragischsten Vermisstenfälle betrifft die beiden Vorarlberger Sportfischer, die im Jänner 2012 nicht mehr vom See zurückkehrten. „Vermutlich hat der Sturm sie überrascht. Der Versuch, dem Unwetter davonzufahren, scheiterte“, sagt Andreas Horb. Eine Woche dauerte die Suchaktion nach den zwei Familienvätern. Gefunden hat man aber lediglich das Boot im Bereich des Rohrspitzes. Im bis zu vier Grad kalten Wasser hatten die Fischer wohl keine Chance. Offiziell gelten sie nach wie vor „nur“ als vermisst.

98 spurlos Verschwundene

Auch diese beiden Männer stehen auf der 98 Personen umfassenden Vermisstenliste. Ob es sich bei einem Fund aus dem Jahr 2012 um die sterblichen Überreste eines der Menschen auf der Liste handelt, ist nicht klar.  Die Kriminalisten konnten den Torso, der damals im Bereich des Höchster Hafens angeschwemmt wurde, niemandem zuordnen. Ungelöst bleibt vorerst auch das Rätsel um eine makabre Entdeckung vor 13 Jahren im Schlick am Seegrund: „Wenn der Wasserpegel wie damals sehr niedrig ist, werden oft außergewöhnliche Funde gemacht“, erzählt Horb. 2003 kamen im Schlick im sogenannten Wetterwinkel jedenfalls menschliche Schädelknochen zum Vorschein. Zu wem sie gehörten, ließ sich bisher nicht herausfinden.

Vermissten- und Todesfälle am Bodensee zählen zum Berufsalltag von Andreas Horb und seinen Kollegen. Und hin und wieder passieren auf dem See Unglücke, die man eigentlich gar nicht für möglich gehalten hätte. Der Seedienstleiter erinnert sich an eine tragische Geschichte im Bereich des Hafens Salzmann: „Bei der Ausfahrt fiel eine Frau – offenbar aus Unachtsamkeit – vom Boot. Dabei hat sie das Steuer noch herumgerissen, sodass das Boot letztendlich über die Frau drüberfuhr und sie mit dem Propeller tödlich verletzte.“

Ein ähnliches Unglück geschah auf Schweizer Bodenseegebiet. Beim Versuch, nach einem Sitzkissen zu greifen, stürzte der Bootsführer ins Wasser. Auch er wurde schließlich vom Boot überfahren und starb. Erst drei Wochen später haben die Suchmannschaften dann die Leiche entdeckt – es hat nicht viel gefehlt und der Schweizer wäre in die Liste der Langzeitvermissten aufgenommen worden. Die zählt aktuell bekanntlich 98 Personen. Freilich – die Aufzeichnungen begannen erst 1947. Der See existiert hingegen wesentlich länger.

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