Herbert Motter

Österreichs Neutralität: Viel beschworen, wenig kultiviert

Mai 2022

Der Angriff Russlands auf die Ukraine lässt das Thema Neutralität wieder in den Mittelpunkt von Debatten rücken. Für Politikwissenschafter Martin Senn sind sie jedoch zu wenig ambitioniert, um für Österreich einen Mehrwert aus dieser Position zu gewinnen. Ein „Ende der Bequemlichkeit“ scheint nicht in Sicht.

Neutralität wird im internationalen Kontext auch als „Unparteilichkeit“ eines Staates bezeichnet. In einem gewalttätigen Konfliktfall leistet ein neutraler Staat keine direkte oder indirekte militärische Unterstützung an eine Konfliktpartei, eine aktive Rolle als Partei im Konflikt ist ausgeschlossen. Völkerrechtlich festgelegt wurde die Rechte und Pflichten neutraler Staaten im Haager Abkommen als direkte Ergebnisse der Friedenskonferenzen von 1899 und 1907.
Für Österreich galt es nach dem Zweiten Weltkrieg, eine dauerhafte Teilung zu verhindern. Trotz anfänglicher Skepsis gegenüber eines neutralen Österreichs, einigten sich die Besatzungsmächte und Österreich auf eine „permanente Neutralität“ des Landes. 1955 wurde diese besiegelt. Sie war die Voraussetzung für die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität. Am 26. Oktober 1955 in einem eigenen Bundesverfassungsgesetz beschlossen, verpflichtet sich Österreich zur Aufrechterhaltung und Verteidigung dieser Neutralität. Sie sollte ein immerwährende nach dem Vorbild der Schweiz sein. Das Gesetz verbietet den Beitritt zu Militärbündnissen und die Errichtung von fremden Militärstützpunkten auf österreichischem Gebiet.
Da Österreichs Neutralität in nationalem Recht verankert ist, kann diese auch von Österreich angepasst und ausgedeutet werden. So wurde sie im Laufe der Jahrzehnte zu einem dehnbaren Begriff, wie ihre Entwicklung in den vergangenen sieben Jahrzehnten zeigt. Für Verfassungsrechtler Theo Öllinger wäre es daher aus verfassungsrechtlicher Sicht auch zulässig, die Neutralität von sich aus aufzugeben.

Phasen der Neutralität

Politikwissenschafter Martin Senn, der das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck leitet, beschreibt vier Phasen der Entwicklung der österreichischen Neutralität.
Mit dem Beschluss 1955 begann die Phase der Konsolidierung, in der Österreich eine eigenständige, engagierte Form der permanenten Neutralität praktizierte. Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er-Jahre setzte dann eine Phase der Expansion ein. Österreich agierte ambitionierter in der Weltpolitik und legte seine neutrale Position globaler aus.
Es folgte die Phase der Reorientierung, bedingt durch das Ende des Ost-West-Konfliktes. Der Fokus der österreichischen Außenpolitik verlagerte sich auf Europa. Die Neutralität wurde zunehmend auf seinen militärischen Kern reduziert. Dies alles mündet in einem Verständnis der differentiellen Neutralität. Im Bundes-Verfassungsgesetz wurde der rechtliche Rahmen für die Teilnahme an Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der sogenannten „Petersberg-Aufgaben“, geschaffen.
„Das bedeutet, dass Österreich im Endeffekt auch an der gemeinsamen Verteidigung gemäß Artikel 42/7 des EU-Vertrages teilnehmen kann. Österreich hat aber gemäß EU-Recht die Möglichkeit eines Exits, im Rahmen der sogenannten „Irischen Klausel“. Die besagt, dass Staaten sich nicht an einer gemeinsamen Sicherheits-, Verteidigungspolitik beteiligen müssen, „wenn es dem Wesen ihrer staatlichen Sicherheitspolitik, sprich Neutralität widerspricht“, erklärt Martin Senn.
Die EU-Mitgliedschaft hat die österreichische Neutralität also maßgeblich verändert. Ab dem Jahre 1995 beteiligte sich Österreich zudem auch an der NATO-Partnerschaft für Frieden.
Immer wieder wurde von bestimmten politischen Kreisen ein Vorstoß in Richtung NATO-Beitritt unternommen. Doch die politischen Parteien neutralisierten sich im Laufe der Jahre in dieser Frage gegenseitig. Eine Phase der Stagnation setzte ein, in der wir uns laut Senn immer noch befinden.

Ukraine-Krieg

Mit dem Ukraine-Krieg verschieben sich aktuell wieder einmal die sicherheitspolitischen Perspektiven. Waffenlieferungen Österreichs an die Ukraine sind ausgeschlossen, das verbieten das Neutralitätsgesetzt und das Kriegsmaterialgesetz offenkundig. Allerdings trägt das Land Sanktionen gegen Russland mit. Das tut es auch in der Rolle als EU-Mitglied. „Das Land ist militärisch neutral, aber eben nicht gesinnungsneutral, orientiert sich an den Vorgaben des Völkerrechts, und bezieht beim Bruch dieser, politisch klar, unmissverständlich und solidarisch Position. Dazu zählt selbstverständlich etwa auch alle europäischen Maßnahmen gegen Russland mitzutragen und Vertriebenen zu helfen“, schrieb Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE), jüngst in einem Kurier-Gastkommentar. Neutralität bedeute ja nicht, sich zurückzulehnen und den Lauf des Weltgeschehens vorbeiziehen zu lassen.
„Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben", hatte Österreichs Kanzler Karl Nehammer jüngst klargestellt. Die Debatte um die Neutralität könnte somit schon wieder beendet sein, bevor sie überhaupt begonnen hat. Schließlich ist die Neutralität in der Bevölkerung so unumstritten wie selten zuvor. Bei einer im März 2022 von der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik durchgeführten Umfrage gaben insgesamt 91 Prozent der Befragten an, dass ihnen auch vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Krieges die Neutralität Österreichs wichtig ist, während ein NATO-Beitritt unseres Landes, vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine, mit 17 Prozent – und konträr etwa zu Schweden und Finnland – aktuell kaum Anhänger findet.
„Dass die Politik die Neutralitätsdebatte scheut, ist nachvollziehbar. Man kann mit ihr keine Wahl gewinnen, aber sehr leicht eine Wahl verlieren. Wird sie aber weiterhin gemieden und unzulänglich geführt, vergibt man eine Chance, die Neutralität zu überdenken oder eben neu zu denken und zu gestalten, und läuft Gefahr, dass sie zu einem Hemmschuh der Außen- und Sicherheitspolitik wird“, betont Politologe Martin Senn.

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