Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Quo vadis „Mein Russland“

Mai 2022

Vor fünf Jahren veröffentlichte die Russland-Korrespondentin des ORF, Carola Schneider, gebürtig aus Marul, ihr Buch „Mein Russland“.
Was hat sich seit dem 24. Februar 2022 verändert?

In Zeiten wie diesen kann man zwar mit Menschen in Moskau telefonieren, aber im Hinterkopf werden die Pressezensur und auch strafrechtliche Androhungen für Journalisten, die in Russland tätig sind, mitbedacht. „Begegnungen in einem widersprüchlichen Land“ hieß es im Untertitel ihres Buches.
2017 schrieb Carola Schneider von einer „geknebelten Bürgergesellschaft“. Mittlerweile sei dieser Knebel komplett zugezogen worden, die politische Opposition sei gänzlich zum Verstummen gebracht worden, nachdem sie schikaniert und massiv geplagt worden sei. Jetzt gebe es sie gar nicht mehr, weil sie im Gefängnis oder im Ausland sei – oder sich nicht mehr äußern könne. Der vorläufige Höhepunkt sei die neue Militärzensur seit März, die bei Verstößen mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden kann und es genüge ein falsches Wort gegen die Aktivitäten der russischen Armee und deren Vorgehen in der Ukraine. Sich öffentlich gegen das Regime zu betätigen sei nicht mehr möglich. Seit Jahren seien Demonstrationen verboten, zuerst wegen Corona, jetzt wegen der „Spezialoperation“ in der Ukraine. Nur wenige Menschen trauten sich noch öffentlich zu protestieren. Schon für Frieden einzutreten, sei Grund genug für eine Verhaftung. Alle unabhängigen Medien seien ausgeschaltet, auch im Internet, es gebe nur mehr die Kremlpropa­ganda. Ein eiserner digitaler Vorhang habe sich weiter gesenkt und unabhängige Informationen können fast ausschließlich nur mehr über VPN (Netzwerkverbindung verschlüsselt) aus anderen Ländern empfangen werden. 
 

Für die ist der digitale eiserne Vorhang noch einen Spalt weit offen, aber er wird zunehmend kleiner.

Die Stimmungslage im Land sei sehr unterschiedlich. Einer Umfrage nach Beginn der „Spezialoperation“ in der Ukraine zufolge waren zwei Drittel der Bevölkerung für Putins „Spezialoperation“. Aber diese fast 70 Prozent Befürworter gebe es aufgrund der mangelnden Informationen einerseits und der effizienten Propaganda andererseits. Ein großer Teil der Bevölkerung sei stolz, weil es Putin dem Westen „zeige“ und Russland wieder gefürchtet werde. Mit dem Narrativ eines nationalsozialistischen Regimes in der Ukraine erkläre Putin das Böse überhaupt, sei doch der Sieg über NS-Deutschland immer noch die größte Identitätsklammer Russlands. Mit unglaublichen Opfern habe das russische Volk damals die Welt vor dem Faschismus gerettet und dieses Narrativ werde gegen die Ukraine gezielt genutzt. Dabei spiele es keine Rolle, dass der ukrainische Präsident Selenski Jude sei und drei Brüder seines Großvaters im Holocaust ermordet worden seien. Die Bewaffnung der Ukraine durch den Westen sei für die russische Propaganda der beste Beweis und die Bestätigung, dass die Ukraine nur eine Marionette und ein willfähriges Instrument des Westens gegen Russland sei. So werde dann diese „Spezialoperation“ als Friedensmission, als Präventivoperation wegen eines drohenden Überfalls der Nato auf Russland erklärt. 
Die Sanktionen des Westens seien in diesem Teil der Bevölkerung kontraproduktiv, als Signal, „die mögen uns nicht, wollen uns schaden und uns klein halten“. Diese Menschen würden sich als Opfer des Westens fühlen und die Sanktionen als ungerecht empfinden und noch näher an Putin rücken. Aber die vollen Auswirkungen der Sanktionen würden sie erst ab Sommer oder Herbst spüren, wenn Mangelerscheinungen auftreten würden, bei Medikamenten, Kindernahrung, Hygieneartikeln oder technischem Equipment. Dann könnte auch die Stimmung kippen. 
Aber es seien laut Umfragen auch 25 Prozent der Russen massiv gegen Putin und seine „Spezialoperation“. Aber sie hätten keine Möglichkeit mehr sich zu äußern. Nur ein paar Mu­tige demonstrierten noch für Frieden. Viele, Zehntausende, würden aus Verzweiflung auswandern. Sie hätten Angst eingezogen zu werden oder sähen keine Perspektive. Die Stimmung in diesem Teil der Bevölkerung beschreibt sie mit Verzweiflung, Schock, Ohnmacht, aber auch mit Schuldgefühlen ob des eigenen Versagens. Auch Scham darüber, hier weiterzuleben und doch nichts sagen zu dürfen. 
Grundsätzlich sei die Haltung bei den Jüngeren und im städtischen Bereich kritischer. Bei jenen Russen, die gut ausgebildet sind, reisen und mit Social Media aufgewachsen sind und nicht direkt vom Staat abhängig sind. Die jüngeren und urbanen Russen seien technisch versierter und könnten trotz Zensurmaßnahmen auf unabhängige Informationsquellen im Internet und den sozialen Medien besser zugreifen. Für die sei der digitale eiserne Vorhang noch einen Spalt weit offen, aber er werde zunehmend kleiner. 

Es muss keine Demokratie nach westlichem Muster sein, aber ein System, in dem die Menschen ein gutes Leben führen können.

Ob es vor diesem Hintergrund zu einem Regimewechsel kommen könne, bejaht Carola Schneider, vielleicht beschleunige es ihn sogar. Aber es werde kein Demokrat an die Macht kommen, möglicherweise werde das neue Regime jedoch nicht mehr so massiv vom Geheimdienst gelenkt sein, wie unter Putin. Die Unzufriedenheit werde größer, wenn die Sanktionen voll durchschlagen und die Behauptung „der Westen ist schuld“, könnte längerfristig nicht mehr ziehen. Aber die Repressionen dürften zunächst noch schlimmer werden. Einen Regimewechsel von unten sieht sie nicht, es gäbe keine Anzeichen in der Bevölkerung Putin zu stürzen. Eher könnte es einen von der Machtelite um Putin herum ausgelösten Regimewechsel geben. Allerdings nur dann, wenn diese das Gefühl habe, ohne Putin sicherer zu sein als mit ihm. Wer in den und von Geheimdiensten und Militär dominierten Machtclans dann als Nachfolger infrage käme oder ob Putin selbst einen Nachfolger vorbereite, sei im Moment nicht klar.
Carola Schneider möchte in Russland bleiben. Sie wünscht sich für das Land eine Entwicklung, die den Menschen erlaubt, ihre Lebensform und ihre Regierung frei zu wählen. Es muss keine Demokratie nach westlichem Muster sein, aber ein System, in dem die Menschen ein gutes Leben führen können.

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