Manfred Hämmerle

Direktor der BHAK und BHAS Bregenz und seit 30 Jahren in der Ausbildung für Lehr­personen, unter anderem an der WU Wien, tätig

Schule in Diskussion – Vorschläge aus Sicht eines Praktikers

Februar 2020

Ich durfte vor kurzem ein interessantes Gespräch mit einem Direktor einer öffentlichen Mittelschule in Bregenz führen. Er beschrieb mir die Wettbewerbssituation in Bregenz und zählte sieben „Konkurrenten“ auf.
Alle wollen die guten Schüler. „Wer kommt denn da noch zu mir? Mir fehlen die guten Schüler in den Klassen.“

Der Wettbewerb um die guten Schüler spielt sich nicht nur auf der Ebene der 10-14-Jährigen ab. Mit mindestens gleich großer Intensität wird um die 14-Jährigen geworben. Es darf eine kritische Frage gestellt werden: „Kann es sich eine Gesellschaft leisten, sich vor allem auf die guten Schüler zu konzentrieren? Sollte nicht viel mehr die Frage sein, wie es gelingen kann, möglichst viele auf ein bestimmtes Leistungsniveau zu bringen, ohne dass die guten Schüler schlechter werden?“ Ziel dieses Artikels ist es, Vorschläge aus Sicht eines Praktikers zu machen. Grundlage sind Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse. Ein Vorschlag gleich zu Beginn: Die Verantwortlichen sollten sich genau überlegen, ob sie weitere Angebote zulassen. Anders formuliert: Mit zusätzlichen Angeboten werden die Mittelschulen gefährdet. Die neue Struktur im Bildungswesen böte da Chancen!

Echte Lernzeit

Die Bedeutung echter Lernzeit ist unumstritten. In Österreich wurde in den vergangenen Jahren mit diesem Thema aber leider grob fahrlässig umgegangen. Bis jetzt ist der katastrophale Fehler aus dem Jahr 2003 – die massive Kürzung von Unterrichtsstunden – nicht korrigiert. Diese Stunden wären aber für intelligentes Üben dringend notwendig. Ähnlich verheerend wirkt sich die Kürzung von Stunden in der Unterstufe der AHS und der damaligen Hauptschule aus. Besonders schlecht ist diese Kürzung für Schüler, die zu Hause keine Unterstützungsstruktur haben. So ist es wenig verwunderlich, dass genau diese Gruppe bei Leistungstests vergleichsweise schlecht abschneidet. Auch die Unterbrechung der Intensivphase bis Weihnachten durch Herbstferien ist zu hinterfragen. Dies sind nur zwei Beispiele für viele zum Thema Lernzeit. Es gäbe viele andere (Josefitag, Schulschluss usw.) Andere Länder haben gute Erfahrungen mit Ganztagsschulen gemacht. Aus parteipolitischen Gründen ist diese aber in Österreich kaum ein Thema. Schade, dass bis heute nicht wenigstens die oben genannten Fehler korrigiert wurden.

Atmosphäre im Unterricht

Nicht nur die bahnbrechende Studie von John Hattie zeigt, dass ein lernförderliches Klima in einer Klasse Basis für den Lern­erfolg ist. Zwei Phänomene, die durchaus zusammenhängen, sind bei dieser Frage zu beobachten. Das Schulunterrichtsgesetz schützt Schüler, die gemeinsames Lernen stören, stark. Anders formuliert: Es braucht massive Verfehlungen, bis ein Schüler Sanktionen befürchten muss. Weniger geschützt werden die betroffenen Mitschüler bzw. die Lehrpersonen. Es bräuchte dringend konstruktive Möglichkeiten, um Schülern, die gemeinsames Lernen stören, neue Wege zu zeigen. 
Lernförderliches Klima wird ganz sicher durch ein wertschätzendes Miteinander unterstützt. Die Wertschätzung für Lehrpersonen hat allerdings in den vergangenen zwanzig Jahren massiv nachgelassen. Das Expertenurteil einer Lehrperson wird – genauso wie die gesamte Profession des Unterrichtens – hinterfragt. Eltern, die das Handeln von Lehrpersonen kritisch beobachten, werden durch Kritik am „System“ bestärkt, das Problem nicht bei sich oder ihrem Kind zu sehen. Schuld ist „das System“. Bestärkt durch „Experten“ schieben so manche Erziehungsberechtigte ihre eigene Verantwortung in den Hintergrund. Es bräuchte aber dringend eine echte Stärkung der Profession des Unterrichtens. Sie ist – neben dem Lernenden – die zentrale Person im Prozess. Auch in diesem Bereich sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse klar. Gute Lehrpersonen sind fachlich kompetent, fleißig und humorvoll. Vor allem mögen sie die Schüler. Diese Kriterien erfüllen manche nicht. Es bräuchte dringend Möglichkeiten, Lehrpersonen, die überhaupt nicht für den Beruf geeignet sind, zu kündigen.
Unterrichtsmethodik
Viele sehen den „Stein der Weisen“ in einer veränderten Unterrichtsmethodik. „Selbstverantwortetes“ Lernen wird als Problemlösung propagiert. Die Studien von John Hattie zeigen, genauso wie praktische Erfahrungen vieler Lehrpersonen, die Begrenztheit solcher Modelle. Am besten kommen diejenigen Lernenden zurecht, die über die notwendigen kognitiven und sozialen Eingangsvoraussetzungen verfügen. Sie würden aber in anderen Lernarrangements genauso lernen, weil die wichtigste Voraussetzung für den Lernerfolg die oben genannten Kriterien sind. Hattie nennt sie „Kognitive Entwicklungsstufe“ und „Selbsteinschätzung“ des Lernenden, für Hilbert Meyer sind es die kognitiven Eingangsvoraussetzungen. Meyer zitiert dazu eine Studie aus den USA, die übrigens an die zweite Stelle die „Klassenführung durch den Lehrer“ stellt. Unsere Erfahrungen zeigen, dass eine Lehrperson dann erfolgreich ist, wenn sie über ein Repertoire von mehreren Methoden verfügt, diese auch anwendet und Leistung konsequent einfordert. Zusätzlich haben sich sinnvolle Förder- und Unterstützungsprogramme als äußerst sinnvoll erwiesen.

Neun Vorschläge

  1. Erhöhung der echten Lernzeit
  2. Wertschätzender Umgang mit engagierten Lehrpersonen – Trennung von nicht geeigneten
  3. Unterstützungsstrukturen, die es einer Lehrperson ermöglicht, sich auf den Prozess und nicht auf einzelne Schüler, die diesen Prozess stören, zu konzentrieren
  4. Klärung der Verantwortung der Lernenden und deren Eltern
  5. Kritische Beobachtung der „Gurus“, die unsere Schulen zuerst schlecht machen und dann mit „tollen“ Lösungsvorschlägen „begeistern“
  6. Weitere Intensivierung der Förderung 
  7. Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Schulforschung
  8. Lernarrangements, die Konstruktion und Instruktion berücksichtigen
  9. Planung der Schulorganisation, orientiert am gesellschaftlichen Bedarf und nicht an den Interessen einzelner. Der Bedarf ist das Ergebnis einer Debatte basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht auf Ideologien.

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