Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, seit 2001 bei der „Presse“ in Wien, seit 2005 im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technologie, Raumfahrt, Militärwesen und Geschichte.

Vom Treibgut der Irrungen in der Meinungsflut

Juli 2017

Mit der Inflation der täglich produzierten Menge medial verbreiteter Meinungen und Analysen wird deren Inhalt immer wertloser. Gründe dafür sind etwa Schnellschussurteile, Ideologien, „Political Correctness“ oder die Beschränkung auf „Eliten“.

Man hat spätestens seit dem „Völkerwanderungsjahr“ 2015 das Gefühl, als halte seitdem eine ununterbrochene Hochzeit der politischen Analysten, Politologen und Kolumnisten an. Keine Figur des auch nur halbwegs öffentlichen Lebens kann mehr ein Wort sagen, das nicht auf die Goldwaage gelegt wird. Niemand kann einen Finger rühren, ohne dass eine Absicht dahinter gesehen wird. Aus jeder Geste, jedem Ohrenwackeln wird auf die Verfasstheit der Person inklusive ihrer Motive und Defizite geschlossen.

Menschen wie Sebastian Kurz, Christian Kern, Emmanuel Macron, Theresa May und Donald Trump sind wie religiöse Bücher, deren Inhalt vielfältig ausgelegt wird – oft je nach Standpunkt und Ideologie des Betrachters, und sofern dieser Inhalt objektiv überhaupt existiert und nicht bloß im Kopf des Beobachters aus dünnen Eindrucksnebeln Gestalt annimmt. Viele Analysen, Interpretationen und Einschätzungen sind folglich halbgar, irreführend, ja falsch. Sie müssen es sein, denn sonst gäbe es nicht so viele kontradiktorische Ansichten.

Klar ist das Phänomen des öffentlichkeitswirksamen Analysierens nicht neu. Aber es hat durch die Meinungsflut in den Kanälen der (a)sozialen Medien an Wucht gewonnen und durch die politische Polarisierung in Links und Mitte-bis-Rechts, in Gutmensch und Realo-bis-Rechtsmensch, die 2015 offen aufbrach, einen Turbo erfahren. Beides schadet der Klarheit des Verstehens und Urteilens.
Dass einer der eitrigen Ausflüsse davon „Shitstorms“ sind, die oft auf schlecht begründeten, impulsiven und moralisch motivierten Schnellschussurteilen Empörungsbereiter beruhen, sei nur erwähnt. Letztlich fallen diesen Hexenverbrennungen halt auch korrekte Personen zum Opfer, deren Verhalten von ihren Anklägern schlicht falsch verstanden wurde oder das man sogar vorsätzlich falsch verstehen wollte (ja, das gibt es!) – das ist ein Systemproblem der „Political Correctness“. Aktuellstes Opfer ist ein bekannter, moderater ORF-Journalist, dem eine hysterische Meute irrig Sexismus gegenüber der abgetretenen Grünen-Chefin Eva Glawischnig unterstellt hatte.

Solchen Fehleinschätzungen sind auch Ereignisse, Phänomene und Stimmungen unterworfen. Wer von den klugen Analysten etwa hatte 2016 gewisse Wahlausgänge in den USA und Österreich sowie den Brexit vorhergesehen? Wie viele haben sich beim zunächst bejubelten Arabischen Frühling gründlich rosarot verschätzt, nur weil daran auch aktivistische Blogger und eine vermeintlich aufgeklärt-liberale „Zivilgesellschaft“ beteiligt waren?

Dahinter steckt gern ein Methodenproblem, wie sich an zwei Beispielen zeigt: Mitte der 1990er-Jahre sah ein bekannter heimischer Magazinjournalist den unmittelbar bevorstehenden Sturz des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević voraus. Als ihn skeptische Kollegen fragten, woher er das nehme, sagte er: „Ich habe in Serbien mit Intellektuellen gesprochen“. Milošević wurde erst Jahre später, Ende 2000, gestürzt.

Als es im Iran nach der Präsidentenwahl 2009 Proteste gegen die Wiederwahl des Hardliners Mahmud Ahmadinejad und Demos für mehr Freiheit gab, wähnten viele Beobachter den Beginn einer Revolution. Darunter war ein Kollege, der sich im Iran umgesehen hatte. Mit wem er gesprochen habe, fragte ich. „Mit Studenten, NGOs, Menschenrechtlern, Journalisten, Künstlern, Oppositionellen halt“, erwiderte er.

Bald versandete die vermeintliche „Grüne Revolution“. Das lag auch am Widerstand des Regimes, aber sicher hatte der Kollege wie viele andere die Aufbruchsstimmung überschätzt, weil er im breiten Volk, bei den Händlern, Arbeitern, Bauern, Taxlern, Beamten, Hausfrauen, Handwerkern, Wirten und Ärzten kaum sondiert hatte. Journalisten und Politologen, die für Länder wie den Iran, Russland oder Ägypten, aber auch etwa für die USA und Österreich Prognosen stellen, sind oft überrascht, wenn’s ganz anders kommt.

Man muss eben die Recherchegrundlage, sprich Personenkreise, mit denen man kommuniziert, verbreitern. Journalisten, Politologen und das sonstige Analysegewerbe haben mehr Selbstkritik, Demut sowie Offenheit zur breiteren Masse hin nötig. Wer seine Einschätzung primär auf Intellektuelle und angebliche „Eliten“ stützt, darf sich nicht wundern, wenn er danebenliegt.
Mir fällt in dem ganzen Kontext ein Schwank ein, den ich in einer Sammlung jüdisch-orientalischer Weisheiten und Schelmengeschichten fand. Er geht so:

Eines Tages trafen einander drei Ärzte, und jeder wollte den anderen sein Wissen beweisen. Eine gelehrte Diskussion mit großen Worten und Gesten hob an. Irgendwann kam ein alter Mann vorbei, der mit gespreizten Beinen hinkte. Kaum sahen ihn die Ärzte, fällten sie auch schon Diagnosen:
 
„Oh, eine Neuralgie des Ischiasnervs“, rief der Erste. „Unsinn“, meinte der Zweite. „Das ist offensichtlich akuter Gelenksrheumatismus.“ – „Liebe Kollegen, ihr irrt“, sagte der Dritte herablassend. „Wir haben es mit einem klaren Fall von fortgeschrittener Arthrose zu tun, sicher verbunden mit Osteoporose.“
 
Die Doktoren konnten sich nicht einigen, also liefen sie dem Mann nach, sprachen ihn an, trugen ihm ihre Urteile vor und fragten, ob er bereits von einem Mediziner erfahren habe, was ihn plage.
 
„Tut mir leid“, entgegnete der Alte. „Ich fürchte, wir liegen alle vier falsch.“

„Wieso alle vier?“, fragten die Ärzte verwirrt. „Nun“, sagte er, „ich dachte, da würde bloß ein Furz kommen. Stattdessen hab’ ich mir in die Hose gemacht.“

Durch Ideologie, fehlende Information, Minderwissen und Anmaßung genährte Vermutungen und Urteile stören oft unsere Wahrnehmung. Über mangelhafte Urteile, gerade bei Schnellschüssen, dürfen wir uns also nicht wundern.

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