Peter Turrini

 

 

Wie verdächtig ist der Mensch?

Dezember 2014

Sehr geehrte Menschen! Ich denke mir, dass wir uns gegenseitig nicht mehr wahrnehmen, sondern einander nur noch verdächtigen können. Wir können keine Stellung zueinander einnehmen, wir können uns nur etwas unterstellen. Jeder verdächtigt jeden und alle haben einen Verfolgungswahn. Wenn es so etwas wie eine österreichische Seele gibt, dann ist sie mit Sicherheit paranoid. Junge verdächtigen Alte, Alte verdächtigen Junge, Männer verdächtigen Frauen und Frauen verdächtigen Männer. So nahe können wir uns gar nicht sein, dass wir uns wirklich nahe kommen, denn zwischen uns nisten die Vorstellungen, wuchern die Bilder, türmen sich die Erwartungen zu solchen Bergen, dass wir uns nicht mehr sehen, auch wenn wir einander anschauen. Die Vorstellungen, die Bilder, die Erwartungen sind frei und grenzenlos, vereinigen alle Wunder, lassen uns das Bild von ewiger Jugend und Schönheit erreichbar erscheinen. Und doch sind wir so unförmig und so alt und so müde und so langweilig und haben womöglich noch einen Ausschlag. Wir sind, so sehr wir uns auch anstrengen und alles kaschieren, immer eine Enttäuschung.

Wenn Männer und Frauen einander nicht mehr entsprechen, dann gibt es einen Ausweg. Die Waren entsprechen immer, sofern die Auswahl groß genug ist. So, wie die kosmetische Chirurgie jede denkbare Nasenform bietet, so bietet die Pornoindustrie, welche mit ihren Umsätzen gerade die Stahlindustrie überrundet, eine immer größere Auswahl an Surrogaten. Designer, welche früher in der Automobilindustrie gearbeitet haben, arbeiten jetzt in der Pornoindustrie an immer perfekteren Nachbildungen von Männern und Frauen – digital und in Latex, die sind unverdächtig und keimfrei. Und sollten Sie, die hier Anwesenden, keinen Umgang mit solchen Artikeln haben, dann muss, statistisch betrachtet, die Bevölkerung außerhalb dieses Raumes im Dauerkonsum liegen.

Glauben Sie nicht, dass ich von der Warte des besseren Menschen aus argumentiere oder gar moralisiere. Als Dramatiker beschreibe ich die Konflikte zwischen den Menschen, das Glück und das Unglück in den Beziehungen. In meinen Stücken flüstern oder reden oder schreien die Menschen miteinander, aber was soll einer flüstern oder reden oder schreien, der mit einer aufblasbaren Latexpuppe verkehrt? Ein Leben lang habe ich Wortbrücken gebaut und Satzbauten errichtet und stehe daher ziemlich hilflos vor den stummen und abwaschbaren Surrogaten des Menschen. Und noch etwas: Neben der chirurgischen und der Pornoindustrie boomt eine weitere Industrie – die Hersteller von allem, was abschließt und wegschließt, machen die allergrößten Geschäfte.

Da sitzt er nun, der autonome Mitteleuropäer, allein in seiner Wohnung, geschützt von Schlössern und Alarmanlagen, und lebt das Drama der neuesten Art, in dem es keine Auf- und Abtritte mehr gibt, kein Lieben und kein Hassen mehr, kein Reden und Gegenreden, sondern nur Surrogate von solchen Vorgängen – jede gewünschte Menge von Bildern und die Stille am Ende des Programms. Die aktuellste Ausgabe des Menschen ist das autonome Monster, Selbstdarsteller in einem Einpersonenstück voller Sehnsucht nach dem Anderen und voller Angst vor dem Anderen und voller Abwehr gegenüber allem, was den eigenen Vorstellungen nicht entspricht.

Am wenigsten entspricht das offensichtlich Andere, das Fremde, die Fremden, die Ausländer. Sie sind das Auffangbecken aller Verdächtigungen. An ihnen handelt jeder Dreckskerl seinen eigenen Dreck ab. Ich habe es oft gesagt und ich will es immer wieder sagen: In keinem anderen Land Europas ist der Fremdenhass so idiotisch wie in Österreich. Denn was man hierzulande dem Fremden unterstellt, was man an ihm ablehnt, wessen man ihn verdächtigt, das ist immer ein Teil von einem selbst. Ein Österreicher, der einen Tschechen oder Kroaten beschimpft, beschimpft sich selbst. Der ethnisch reine Österreicher ist eine Erfindung. Es gibt ihn nicht! Es gibt keinen österreichischen Bundespräsidenten, es gibt keinen österreichischen Bundeskanzler. Es gibt und gab jüdische und kroatische und tschechische Einwanderer und deren Nachkommen in besagten Positionen. Was man Österreicher nennt, ist ein europäisches Gemisch gleichen Namens. Eine Promenadenmischung, die den Glücksfall ihrer Mischung nicht wahrhaben will und sich immer wieder als deutscher Schäferhund ausgibt. Stellen Sie sich das einmal bildlich vor, eine Promenadenmischung setzt sich die Ohren eines Schäferhundes auf und bellt großdeutsch. Das macht die österreichischen Fremdenhasser so lächerlich – und so unberechenbar.

Der Verdacht allgegenwärtig, unersättlich, trifft einzelne Menschen, trifft Menschengruppen, trifft Klassen. Ist Ihnen aufgefallen, wie nachdrücklich das Wort „Arbeiterklasse“ aus unserem Sprachgebrauch verschwunden ist? Und mit dem Wort sind die Menschen, die es bezeichnet, verschwunden. Wir wollen nichts mehr von ihnen wissen. Es sei denn, das Abflussrohr ist verstopft oder die Wohnung soll billig renoviert werden. Die Arbeiterklasse ist in den letzten Jahren ununterbrochen verdächtigt worden: der Faulenzerei, der Lohntreiberei, der Sozialschmarotzerei. Heute macht in vielen Betrieben die halbe Belegschaft die doppelte Arbeit. Vielleicht war dies das Ziel aller Verdächtigungen.

Die Verdächtiger gewinnen an Macht. Die Verdächtigten werden immer ohnmächtiger. Wer nicht zurückreden kann, weil ein anderer das letzte Wort hat, und sei es das dümmste, der verliert das Spiel. Es ist völlig unerheblich, ob ein Verdacht ein Körnchen, einen Brocken oder ganze Massive von Wahrheit enthält. Entscheidend ist, dass in jener Geschwindigkeit, in der Aussagen und Berichte erscheinen und wieder verschwinden, Wahrheit und Unwahrheit nicht voneinander zu trennen sind. Das Ergebnis dieser Geschwindigkeit ist die Verdachtsgesellschaft. Jeder ist verdächtig, und selbst die Entkräftung eines Verdachts ist machtlos gegen die Geschwindigkeit. Irgend etwas bleibt immer hängen! Die Geschwindigkeit ist der Feind der Tatsachen und des Tatsächlichen. Wie kann man begreifen, was eine Wiese ist, wenn man mit 150 Kilometern pro Stunde an ihr vorbeifährt? Man sieht sie, aber man riecht nur das Benzin. Man braucht eine Panne, eine Pause, eine Rast, um ihr näherzukommen. Welche Wahrheit sollte sich im Durchblättern erschließen? Welche Meinung sich im halben Hinschauen, welches die moderne Form des Wegschauens ist, bilden? Das Weltgeschehen wird täglich vollständig veröffentlicht und man begreift gar nichts. Das einzige, was bleibt, ist das Gefühl der Verunsicherung, und dass alles und alle verdächtig sind. Das einzige, was man empfindet, ist Angst, und daraus erwächst der Verfolgungswahn und aus ihm neue Verdächtigungen.

Die verdächtigen Eigenschaften, welche Menschen bei anderen Menschen wahrnehmen, schlummern zumeist in ihnen selbst. Die Ungeheuer, die man überall sieht, rumoren unsichtbar in der eigenen Brust. Die Vorstellung, die Hölle seien immer die anderen, ist die verbreitetste und unrichtigste. Hinter den sichtbaren Taten von wenigen verstecken sich die Abgründe von vielen. Die meisten Menschen töten nicht, rauben nicht, vergewaltigen nicht, aber die meisten Menschen halten die meisten Menschen für fähig, solche Taten zu begehen, und wirken förmlich erlöst, wenn wieder einmal ein Tatverdächtiger dingfest gemacht wurde.

Was wäre angesichts dieser misslichen Situation zu tun, werden Sie mich fragen. Und ich werde mich nicht auf die übliche Position des Schriftstellers zurückziehen, der zwar eine Analyse geben kann, aber keinen Rat. Ich werde Ihnen einen Rat geben, oder besser gesagt, ich werde Ihnen einen Vorschlag machen. Verfallen Sie Ihren Mitmenschen gegenüber – ab und an – in allerplumpstes Vertrauen und denken Sie ständig daran, dass es weniger Mörder gibt, als man nach dem Konsum des Fernsehprogramms annehmen würde. Ich wage mich manchmal, selten genug, an diese Übung heran, und ich habe dabei immer sehr schöne Erfahrungen gemacht. Der Schaden, der mir entstand, war zumeist gering, und der Gewinn, der mir zufiel, war fast immer beträchtlich. Ich weiß, dass man sich in schwachen Zeiten solche Übungen nicht zutraut und anderweitig Trost sucht, beim Hund oder bei der Religion. Ich verstehe solche Fluchtversuche, denn in sehr ängstlichen Zeiten nehme auch ich Kontakt mit dem lieben Gott auf. Aber mein Verständnis endet, wenn es ins Fundamentalistische ausartet. In Österreich leben laut neuester Statistik schon mehr Menschen mit einem Tier zusammen als mit einem anderen Menschen.

Das künstlerische Wort, dem ich mit Leidenschaft anhänge, und die wissenschaftliche Erklärung, der ich mit Neugier lausche, können auch eine Falle sein. Sie können die Verstörungen der Menschen, die Entfremdungen, die Vereinsamungen, die Kluft zwischen den Generationen richtig bezeichnen. Aber das kann uns nicht davon entbinden, zu fragen, wie sich das Gesagte zu uns selbst verhält. Wie wir uns verhalten?

Wie gesagt, die Hölle sind nicht immer nur die anderen …

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