Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

„Ich möchte ein lebendes Kunstwerk sein“

April 2022

In den verlassenen Straßen Londons hebt sich ein Schatten von den dunklen Wänden ab, ein Phantom, blass und ausgezehrt, das jeden Abend in der Dämmerung am Oxford Circus auftaucht. Mit wachsamen Augen durchwühlt die Frau die Mülltonnen, sucht mit ihren langen, knochigen Armen nach Essensresten und anderem Verwertbarem. Sie zieht von Hotel zu Hotel und lebt von den dürftigen Spenden der Maler, denen sie einst half.“ So lautet auszugsweise der Text aus einer filmischen Dokumentation über Luisa Casati – Aufstieg und Fall einer Diva, aus der Serie „The Lost Ones“, die im Auftrag von ARTE 2020 produziert wurde. Ob es sich wirklich genauso zugetragen hat, wird sich nicht nachweisen lassen, sicher ist jedoch, dass die einstmals zu den reichsten Frauen Italiens zählende Luisa Casati ihren Lebensabend in sehr bescheidenen Verhältnissen zubringen musste.
Wer heute im Internet oder in Bibliotheken nach ihrem Namen recherchiert, findet vielfältige Informationen, Bücher, Filme, Fotografien, und besonders häufig Gemälde, auf denen die faszinierende Frau abgebildet ist. In den USA gibt es sogar ein von Historikern aufgebautes Archiv (The Casati Archives), wo akribisch Material über Luisa Casati gesammelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird.

Vorarlberger Wurzeln

Es ist dem Lokalhistoriker Manfred Getzner zu verdanken, dass er 2001 in einem ausführlichen Artikel in der Vor­arlberger Zeitschrift „Montfort“ das Schicksal der Familie Amman nachgezeichnet und in diesem Zuge auch die Vorarlberger Wurzeln von Luisa Casati aufdeckt hat, die am 23. Jänner 1881 als Luisa Amman in Mailand geboren wurde. Ihre Vorfahren waren von Göfis nach Oberitalien ausgewandert, wo sie gutgehende Textilbetriebe aufbauten, die ihnen zu großem Reichtum und Ansehen verhalfen. Als Luisa noch eine Jugendliche war, verstarb 1894 früh ihre Mutter Lucia Bressi und zwei Jahre später auch ihr Vater, Conte Alberto Amman. 
1900 heiratete sie, als eine der reichsten Erbinnen Italiens geltend, Camillo Casati, einen Spross einer hoch angesehenen Mailänder Aristokratenfamilie. Das junge Paar genoss den Reichtum, war viel auf Reisen und lebte in mehreren luxuriösen Wohnsitzen in Italien, der Schweiz und in Frankreich. Bei einer Fuchsjagd lernte sie den italienischen Dichter Gabriele D’Annunzio kennen, mit dem sie dann eine langjährige außereheliche Beziehung begann. Sie teilte mit ihm die Leidenschaft für die schönen Künste, sowie das Interesse für den Okkultismus und die Esoterik. 
Zu jener Zeit veränderte sie ihren Look, umrandete ihre dunklen Augen mit kräftig-schwarzen, graphischen Lidstrichen und erweiterte ihre Pupillen mit Belladonna-Tropfen. Sie färbte ihre Lippen und das kurz geschnittene Haar in grellen Farben und fiel außerdem durch kühne, ausgefallene Bekleidung auf. So erschien sie bei einem ihrer vielen Empfänge „in elfenbeinfarbiger Seide mit Schleiern und einem Bukett weißer Orchideen, dass mit einer rubinbesetzen Brosche in Form eines Drachen an ihre Brust geheftet war. Sie liebte es sich in Roben aus kostbarster venezianischer Spitze mit Ballonärmeln und langer Schleppe zu kleiden, mit einem juwelenbesetzten Brokatgürtel um ihre schmale Taille geschlungen.“
Die Kleidung, die sie trug – von den kreativsten Modeschöpfern ihrer Zeit entworfen – war innovativ und orientierte sich nicht an traditionellen Vorbildern, was sie weit über ihre Lebzeiten hinaus zu einer Trendsetterin in Sachen Mode machte. Sie hasste das Mittelmaß und war andauernd auf der Suche nach wirkungsvollen Auftritten. Mit ihren Kreationen inspirierte sie zahlreiche Modeschöpfer bis in unsere Tage: Alexander McQueen, Tom Ford, Giorgio Armani und auch der große Karl Lagerfeld ließen sich von Luisa Casati inspirieren. Lagerfeld fotografierte etwa 2003 Carine Roitfeld, damalige Herausgeberin der französischen Vogue, im Look der Luisa Casati. Bei John Galliano stand sie 1998 Pate bei einer seiner ersten Haute Couture-Kollektionen für Christian Dior. Bei diesem Anlass bekam man hoch gewachsene Models mit feuerrotem Haar und mit Kajal umrandeten Augen zu sehen, mit Windhunden an der Leine, die in der Opéra Garnier in Paris die Erinnerung an opulente Feste in Venedig wachzurufen versuchten. Die Autoren einer Casati-Biographie zitieren Galliano in seiner Begeisterung, die er in einem Interview ausdrückte: „Die Marchesa Casati ist eine der erstaunlichsten Frauen, auf die ich in meinen Recherchen je gestoßen bin. Sie hat die gesamte Kollektion inspiriert. Auch wenn sie selbst nicht mehr unter uns weilt, ist ihr Leben dennoch ein strahlendes Symbol und eine ständige Quelle der Inspiration.“
Ihre Empfänge und Bälle in Venedig waren legendär. Der spektakulärste war wohl 1913 der Grande Ballo Pietro Longhi, ein Maskenball im Stil des 18. Jahrhunderts, der in die Geschichte Venedigs eingehen sollte, da es Casati gelungen war, den Bürgermeister und Polizeipräsidenten dazu zu bewegen, ihr den Markusplatz für ihre Zwecke zu überlassen. Da Luisa Casati auch als Motiv in die Literatur Eingang fand, verwundert es nicht, wenn die französische Schriftstellerin Camille de Peretti in ihrem 2011 erschienen Roman „Der Zauber der Casati“ genau diese Begebenheit nacherzählt: „Die Nacht war von Gelächter gefüllt, der Himmel schien maßlos hoch, da erklangen auf einmal Trompeten, und blendendes Licht ließ alle Köpfe wenden. Auf dem Kanal glitt eine von hunderten chinesischen Lampions beleuchtete Gondel heran, auf ihr Luisa, ganz in Gold gewandet. Der Markusplatz war von donnerndem Applaus erfüllt, und die Casati wurde zur Göttin, zur absoluten Königin ihres eigenen Unmaßes und der Dekadenz aller.“
Ende der 1920er Jahre war allerdings aufgrund des verschwenderischen Lebenswandels das gesamte Vermögen der Luisa Casati aufgebraucht, obwohl sie zuvor schon einige exklusive Immobilien verkauft hatte. Immer öfter wurde sie auch Opfer von Taxifahrern, Händlern und Lieferanten, die sie mangels Bargeld mit den noch verbliebenen Diamantarmbändern, Smaragdringen und Perlen bezahlte. In immer größere finanzielle Not geraten und sogar einer Zwangsversteigerung ausgesetzt, setzte sich Casati Ende der 1930er Jahre nach England ab, da in Frankreich und Italien zahlreiche Gläubiger auf sie warteten. Schließlich war sie so mittellos, dass Freunde aus alten Tagen für sie aufkommen mussten. Zeitzeugen berichten, dass sie, obwohl verarmt, mit hoch geschlitzten Röcken bekleidet und einem Leopardenfell geschmückt, die Augen mit schwarzer Schuhcreme geschwärzt - sie konnte sich keine teure Kosmetik mehr leisten – in London gesehen wurde. 1956 erlag „La Casati“ 76jährig einem Hirnschlag und wurde auf dem Friedhof von Brompton im westlichen London beigesetzt.
Wenn die US-amerikanischen Historiker Ryersson und Yaccarino ihre umfassende Biografie Casatis in der englischen Originalausgabe mit „Infinite Variety“ betiteln, dann kommt das nicht von ungefähr, lautet doch die Inschrift auf ihrem Grabstein „Age kann not wither her nore custom stale her infinite variety“ – Das Alter kann nicht welk sie machen, noch die Gewöhnung ihre unendliche Vielfalt schal. (Zitat aus Shakespeares: Antony and Cleopatra, 1606)

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