Herbert Motter

Schieles „Flucht“ nach Bregenz

Dezember 2021

Neben Gustav Klimt und Oskar Kokoschka gilt Egon Schiele als bedeutendster Maler der Wiener Moderne. 1912 weilte er für wenige Wochen in Bregenz. Der dortige Aufenthalt galt als Versuch, nach einer schweren persönlichen Krise wieder Fuß zu fassen.

Das In-Beziehung-Setzen von Orten, die nur ganz kurz, scheinbar kaum von nachhaltigem Einfluss in das Blickfeld eines Künstlers treten, beziehungsweise die Arretierung solcher bestimmter, kurzer Momentaufnahmen gleichenden Zeitpunkte im Leben eines Künstlers hat etwas Reizvolles an sich; insbesondere dann, wenn man diesen Zeitpunkt fixiert wie in einem Film, in dem die Figuren erstarren, die Szenerie verharrt und die Zeit aufgehoben scheint, die Momentaufnahme in den bio- wie monographischen Zusammenhang eingereiht wird.“ So beginnt Kunsthistoriker Peter Weiermair seinen 1971 veröffentlichten Beitrag in der Vierteljahresschrift Vorarlberg. Er bezieht sich dabei auf Egon Schiele, einen der bedeutendsten Maler der klassischen Moderne, der im Alter von 22 Jahren nach Vorarlberg kam.
Auch wenn es nur wenige Wochen waren, in denen Egon Schiele in Bregenz weilte, lohnt es sich, den Blick etwas genauer auf diesen Aufenthalt zu lenken. Das Jahr 1912 ist ein prägendes Jahr für den 1890 in Tulln als Sohn eines Eisenbahners geborenen Künstler. In diesem Jahr ziehen Schiele und seine 17-jährige Muse Wally Neuzil, die zuvor Klimt Modell gestanden hatte, in die Gegend von Neulengbach. Doch die Zeit des frühen künstlerischen Aufstiegs wird jäh unterbrochen: Im April wird Egon Schiele beschuldigt, ein Mädchen entführt und sich an Jugendlichen vergangen zu haben. Über hundert seiner Zeichnungen wurden als anstößig betrachtet und beschlagnahmt, was zur Folge hatte, dass zu den Anklagepunkten noch der Tatbestand der Zurschaustellung pornografischen Materials an Minderjährige kommt. Nach 21 Tagen Untersuchungshaft in Neulengbach wird der Künstler schließlich lediglich zum letzten Anklagepunkt für schuldig befunden. Weitere drei Tagen Arrest sind die Folge, der Richter verbrennt öffentlichkeitswirksam eine Zeichnung vor ihm. Das alles geht nicht spurlos an Schiele vorüber; der 22-jährige fühlt sich zunächst unfähig, wieder zu arbeiten. Eine Reise in den Westen soll Abhilfe leisten. Egon Schiele reist nach Vorarlberg und bezieht Quartier in der Bregenzer Reichsstraße 13.

Flucht aus der Gegenwart

„Der mehrwöchige Aufenthalt im äußersten Westen des Landes mit größtmöglicher Distanz zu Wien im Sommer 1912 war aber prinzipiell eine Reaktion auf die in Schieles Augen unrechtmäßige Inhaftierung und Verurteilung im Frühling des Jahres und vor allem auch auf die Reaktion darauf von ihm nahestehenden Personen. Enttäuscht von deren mangelnder Unterstützung – als positive Ausnahmen nennt er einzig seine damalige Lebensgefährtin Wally Neuzil und den Freund und Sammler Heinrich Benesch – geht er physisch auf Abstand“, beschreibt Verena Gamper, Kuratorin und Leiterin des Egon Schiele-Dokumentationszentrums, Schieles Reise nach Bregenz als eine Flucht aus seiner gegenwärtigen Situation.

Die Erklärung für seine Reise im Sommer 1912, die den Künstler neben Bregenz unter anderem auch nach Zürich und München führte, lieferte Schiele in einem Brief zwei Jahre später selbst: „Mir eckelte [!] vor meiner früher so innig geliebten melancholischen Landschaft in Neulengbach. – es trieb mich als Gegensatz an die Grentze [!]; ich blieb in Bregenz 1912 und sah nichts als den verschieden stürmenden See und ferne weiße sonnige Berge in der Schweiz. – ich wollte ein neues Leben beginnen. [...]“, schrieb Schiele an den Kunstsammler Franz Hauer am 25. Jänner 1914 (Quelle: „Egon Schiele-Datenbank der Autographen“, www.egonschiele.at). Zu der Zeit war Schiele längst wieder in Wien. Bereits im Oktober 1912 hatte er in der Hietzinger Hauptstraße 101 im 13. Wiener Gemeindebezirk ein Atelier bezogen, das er bis zu seinem Lebensende nützen wird.
Das Thema Schiele und Bregenz übt auch auf den ehemaligen Direktor des Vorarlberger Landesmuseums, Tobias G. Natter, der als Vorarlberger die Gymnasialzeit in der Mehrerau am Bodensee verbrachte, schon lange eine besondere Faszination aus. Bis heute ist Natter überzeugt, dass Schiele und seine Zeit in Vorarlberg ein lohnendes Ausstellungsthema wäre: „Nach der existenziellen Erschütterung der Neulengbach-Affäre ist die Reise nach Bregenz der Versuch, wieder Fuß zu fassen.“ In Schieles Bregenz-Zeit sind einige Werke entstanden. Im August 1912 malte Schiele vom Kirchplatz der St. Galluskirche aus das Deuringschlössle. Während seines Aufenthaltes in Vorarlberg entstanden auch Bilder eines Raddampfers und eines Kastanienbaumes. Kunsthistoriker Weiermair verortet den Kastanienbaum am Lochauer Seeufer und identifiziert die Berge im Hintergrund als Pfänder und Staufenspitze.
Ein Brief an den Sammler Oskar Reichel zeugt allerdings von Geldnot Schieles während dieser Zeit: „Lieber Dr. Reichel! Ich bitte Sie mir 80 K. [Kronen] zu senden! – ich habe einige interessante Arbeiten die ich hier erzeugte [...]“ „Dass diese Flucht nicht von Dauer war und wohl auch nicht als solche geplant war, liegt in der für das Überleben als Künstler und die Pflege des Netzwerks notwendigen Präsenz in Wien“, erklärt Kuratorin Gamper.

„Phantastische“ Preise

„Egon Schiele und sein Werk, das in knapp zehn Jahren entstanden ist, erfahren heute eine lange kaum vorstellbare weltweite Präsenz. Die Gemälde und Zeichnungen des Frühvollendeten treffen offenbar einen Nerv unserer Zeit. Ausstellungen zu seinem Werk entwickeln sich zu medialen Ereignissen, die Preise seiner Kunst steigen ins Phantastische“, schreibt Natter in seinem Vorwort zum viel beachteten Werkverzeichnis der Schiele-Gemälde 1909-1918. Was das heißt, wurde 2011 deutlich: Eine Stadtansicht Schieles „Häuser mit bunter Wäsche (Vorstadt II)“ von 1914 konnte im Londoner Auktionshaus Sotheby's für die Rekordsumme von 27,6 Millionen Euro versteigert werden. Es ist damit das bisher teuerste Werk des österreichischen Expressionisten. Das teuerste Gemälde, das je in Österreich versteigert wurde, ist nach Angaben des Wiener Auktionshaus „im Kinski“ Schieles Werk „Die Prozession“. Es wurde für eine Rekordsumme von 4,4 Millionen Euro verkauft.
Schiele studierte zwischen 1906 und 1909 an der Akademie der bildenden Künste. Das Jahr 1910 markiert für Egon Schiele den Durchbruch zur eigenen, einzigartigen Ausdruckskunst. Vom Stil seines konservativen Tutors frustriert, verließ er die Akademie; der Bruch bedeutet auch eine Abkehr von den ästhetisch-dekorativen Konventionen des Jugendstils. Gegen den Schönheitskult der Wiener Sezession setzt er das Hässliche, Verzerrte.

Zwischen „Melancholie und Provokation“

Was macht Schiele so einzigartig? Es ist die verwirrte Intensität, die verdrehten Körper und die rohe Sexualität, die er in seinen Bildern darstellt. Im Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses stand auch die Reflexion der eigenen Existenz, die sich in zahllosen Selbstdarstellungen, aber auch in seinen Landschafts- und Städtebildern niederschlug.
„Das Interesse an Egon Schiele speist sich aus vielen Quellen. Das liegt natürlich zu allererst an Schiele selbst und seiner nie erlahmenden Beschäftigung mit sich selbst, an seinen mitreißenden Darstellungen, für die er weder gesellschaftliche Konventionen noch Tabus akzeptiert, und an einer packenden Ästhetik, die zwischen Expression, performativer Inszenierung und körperhafter Identitätssuche steht“, skizziert Natter die Faszination Schieles. In den zehn Jahren Schaffenszeit präsentierte Schiele ein umfangreiches Oeuvre von circa 3500 Werke, davon 330 Ölgemälde und rund 170 Selbstbildnisse. Ein Jahrhundert nach seinem Tod fasziniert Egon Schiele immer noch mit ausgezehrten, überdehnten Gestalten und einer drastischen Darstellung der Sexualität.
Im Alter von 28 Jahren starb Egon Schiele 1918 an der Spanischen Grippe. Seine letzten Worte sollten sich bewahrheiten: „Der Krieg ist aus – und ich muß gehn. Meine Gemälde sollen in allen Museen der Welt gezeigt werden.“

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