Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Vom verschwinden der Bücher

März 2021

Es ist eine Begleiterscheinung des Alterns, dass Kinder erwachsen geworden sind und das traute Heim der Eltern verlassen. Eine neue, leere Wohnung will dann eingerichtet werden, und da ist Vater doch gerne behilflich – schon bei der Einrichtungsplanung. Und die erste Frage im Wohnzimmer ist wohl die, wo kommt der Fernseher, die Couch und wo das Bücherregal hin? Bücherregal? Wer redet hier denn noch von Platz für Bücher, auf dem Couchtisch liegt das Tablet, und da ist alles drin, was sonst Platz versperrt und dem Staub eine herrliche Anmache bietet und gleich der Hausstaubmilbe eine behagliche Mitwohngelegenheit verschafft. „Und die vielen schönen – ja auch wertvollen – Bücher aus der Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit – wo kommen die hin?“ „Die kannst du haben, ich lege sie dir in Schachteln zurecht“, die Antwort. 

Vielleicht nicht gerade Abenteuer im Kopf

„Bücher sind Abenteuer im Kopf“, schwirrt es mir durch den Kopf. Behutsam und langsam nehme ich das erste in die Hand und spüre das Papier und sehe auch ein paar Verdunkelungen auf dem Umschlag. Wohl dort, wo ich es zumeist gehalten hatte, wenn wir im Bett lagen und ich aus dem Buch vorlas – oder mir später vorlesen ließ. Bei beiden Varianten nicht selten in kuschelig warmer Atmosphäre, gemeinsam unter der Bettdecke, an der Seite der Söhne oder der Töchter. Manchmal dabei auch einschlief, um mich dann ungeduldig wecken zu lassen: „Papa“. Es sind dann nicht die Abenteuer im Kopf, die das Buch generierte, sondern es sind die Erinnerungen ans gemeinsame Lesen und die Erinnerung an das Gelesene und das daraus Hervorgegangene, zusammen mit dem Kind im Kinderzimmer, das fortan einer neuen Bestimmung zugeführt wird. Ein Gefühl der Wehmut – sogar eines Schmerzensstiches – erfasst mich und ich ergreife nach dem „Lederstrumpf“ ein Buch über das „Westernreiten“, und denke unwillkürlich an die gemeinsamen Ausritte in Cowboy-Volladjustierung und spüre wieder den Schmerz um den Verlust, der mit dem Buch in der Schachtel des Möbelhauses mit den billigen Spanplattenmöbeln sein vorläufiges Aufenthaltsrecht erwirkt hat und nun in mein Herz gedrungen ist. „Willst du die wirklich nicht mehr?“, ein verzweifelter, zum Scheitern verurteilter zweiter Anlauf, die Bücher für ihn – oder doch für mich? – zu retten. Kläglich von seiner Perspektive aus, und klagevoll von meiner Perspektive, scheitere ich.  
Ein Buch ist mehr als ein geschriebener Text 
Warum hänge ich an den Büchern, und viele junge Menschen haben zu ihnen keine Beziehung mehr? Weil ich erstens das Haptische, das In-Händen-Halten, liebe und noch viel mehr, weil auch ein Buch sich, zweitens, durch das Lesen verändert. Nicht nur, dass der eigene Name oder der des Kindes und vielleicht noch der Anlass für das Buchgeschenk sorgfältig auf den ersten Seiten notiert ist. Dort ist ein kleiner Fingerabdruck, dort ein Eselsohr und eine Seite hat gar einen Riss von oben bis fast nach unten. Und beim Durchblättern bekommen die Seiten wie von Zauberhand ein Inhaltsverzeichnis. Ungefähr in der Mitte des Buches rechts oben ist doch gestanden, wie der „edle Wilde“ sich zum ersten Mal seinem späteren Freund näherte. Und bei vielen Büchern meine ich zu wissen, wo ich eine Textstelle zu finden habe. Eher am Anfang, links unten oder ich finde sogar den einen oder anderen Bleistiftstrich oder Kommentar aus längst vergangenen Zeiten und wundere mich, was mir wohl damals durch den Kopf ging, oder kann es sogar das eine oder andere Mal nachvollziehen. Und wenn ich ein Buch verleihe und es wieder zurückbekomme, dann ergibt sich ein Gespräch über Inhalt und unseren Zugang zu diesem von ganz alleine. 
Und all das soll jetzt plötzlich in einem kleinen Tablet Platz haben, das unscheinbar auf dem Couchtisch liegt und von Zeit zu Zeit ans Netz muss, die WLAN-Verbindung braucht und gelegentlich von einem Mikrofasertuch gepflegt wird, bis dass kein noch so kleiner Fingerabdruck mehr sichtbar ist? Und Ausleihen geht gar nicht, es wird ein Link geschickt und der Text dann mehr oder weniger schnell durchgescrollt. Es stand nicht mehr links oben, oder der Riss im Buch, als es beim Einschlafen von der Bettdecke rutschte, ist einfach nicht mehr da. Und wenn ein Tablet einen Riss vom Fallen bekommt, so wird sich dieser über alle die Texte an jeder x-beliebigen Stelle zeigen und keine Erinnerung mehr schaffen zu dem, was dort im Buche stand. 
So schleichend wie die Bücher aus den Regalen im Wohnzimmer verschwinden, verschwinden die Bücherregale im Möbelhaus von der Angebotsseite und letztlich dann irgendwann auch aus dem Handel. Wer heute noch Bücher kauft und liest, gehört einer aussterbenden Spezies an, und wer immer noch Bücher für die Kinder und Enkel kauft, kauft sie wegen der Erinnerungen an das eigene Lesen und Vorlesen und Vorlesenlassen im Laufe des eigenen Lebens. Aber irgendwann werden die Menschen diese Erinnerung an das Lesen und Vorlesen und Vorlesenlassen aus einem Buch nicht mehr kennen und gekannt haben, und dann werden die Bücher verschwinden – verschwunden sein. 
Meine hunderten Bücher werden zum Altpapier wandern – vielleicht bis auf ganz wenige – denn es wird kein Regal, kein Platz mehr da sein, wo sie von liebevoller Hand gezielt herausgezogen werden können, der Staub auf dem oberen Buchrücken abgeblasen wird und mit sicherer Hand seinen Inhalt aufs Neue eröffnet. Eine kleine Chance gibt es noch, wenn wir das Bücherlesen beibehalten, es mit den Erinnerungen unserer Kinder und Kindeskinder zu dem machen, was es ist: ein Schaffen von Gedankenwelten und noch viel mehr ein Schaffen von Erinnerungen der Gemeinsamkeit, die haptisch an dem hängen, was wir Bücher nennen und genau dadurch wieder erfahren werden können. Noch einmal verschaffe ich den Büchern meines Sohnes einen Platz in meinem schon überquellenden Bücherregal und schiebe den Felderband „Aus meinem Leben“ genau da hinein.

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