War Vorarlberg immer schon ein „Ländle“?
Der Ausdruck „Ländle“ ist heute in Vorarlberg allgegenwärtig: Es gibt Ländle-Honig, Ländle-Fleisch, Ländle-Immobilien, eine Ländle-Gala, die Ländle-Gastronomie und vieles, vieles mehr. Wer aber meint, dieses Attribut bilde ein „Alleinstellungsmerkmal“ Vorarlbergs, täuscht sich. Auch das Fürstentum Liechtenstein und Baden-Württemberg nennt man „Ländle“. Allerdings führt nur Vorarlberg diesen Titel gleichsam offiziell, denn im Gegensatz zu den beiden Nachbarn wurde er 1949 in der Vorarlberger Landeshymne durch ein Gesetz dekretiert. Es handelt sich dabei um Anton Schmutzers Lied „s’Ländle, meine Heimat“.
Als dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, stieß die Bezeichnung „Ländle“ noch keineswegs auf ungeteilte Begeisterung. So schrieb 1912 der aus Höchst gebürtige Priester Julius Blum im „Vorarlberger Volksblatt“, dass mit diesem Ausdruck ursprünglich nur Vorarlberger Studenten in Tirol gehänselt worden seien. Im Land selbst habe ihn erst ein Fremder aus Böhmen oder Mähren geschäftstüchtig als Zeitungsname vermarktet und dafür bezeichnenderweise den Beifall der Freisinnigen gefunden. „Echte Vorarlberger“ hingegen würden ihr Land nie als „Ländle“ verunglimpfen. Dieser Auffassung widersprach man damals aber selbst von konservativer Seite und erklärte, der Ausdruck „Ländle“ habe für viele schon längst den „Beigeschmack des Verächtlichen“ verloren. Darauf entgegnete Blum, „der zuckerwässrige Kosenamen“ bilde dann eben einen Ausdruck von importierter „Salonheimatliebe“, von einem „Salonvorarlbergertum“, das gekünstelt und „keineswegs aus der Wärme des Vorarlberger Herzens, des Vorarlberger Gemütes“ erwachsen sei.
Auch das traf nicht zu, denn selbst der Bregenzerwälder Bauerndichter Franz Michael Felder verwendete die Bezeichnung „Ländle“ mehrfach sehr positiv in seinem Roman „Nümmamüllers oder das Schwarzokaspale“, der 1863 als ein „Lebensbild aus dem Bregenzerwalde“ erschien. Der Bregenzer Heimatdichter Kaspar Hagen nannte Vorarlberg um diese Zeit ebenfalls voller Inbrunst „Hoammatländle“. Zahlreiche weitere Texte ließen sich anführen. Der älteste bislang bekannte Beleg für den liebevoll gemeinten Ausdruck „Ländle“ stammt aus den von Franz Josef Vonbun aus Nüziders 1847 veröffentlichen „Volkssagen aus Vorarlberg“. Dort heißt es, eine prächtige Alpe im Brandnertal, worüber sich heute der Gletscher erstrecke, sei vormals „em ganza Ländle“ gerühmt worden.
Allgemein verbreitet scheint diese Bezeichnung damals aber nicht gewesen zu sein. Zumindest galt sie dem Innsbrucker Gubernialsekretär Johann Josef Staffler in seiner 1839 veröffentlichten Landesbeschreibung von Tirol und Vorarlberg nicht als erwähnenswert, obwohl er darin ausdrücklich auf die regional übliche Verkleinerungssilbe zu sprechen kam. Als Beispiele führte er „Häfele, Büchele, Hüsle, Hütle“, aber eben nicht „Ländle“ an. In der nächsten Zeile nannte er Vorarlberg sogar ausdrücklich „Ländchen“. Außerdem verstanden Einheimische um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter einem „Ländle“ auch noch ein kleines Ackergrundstück. So wurde im „Bregenzer Wochenblatt“ 1842 ein Wohnhaus in Bildstein samt Gärtchen, „Ländle“ und Reben zur Versteigerung ausgeschrieben.
Vorarlberg konnte auch deshalb nicht schon lange so genannt worden sein, weil es sich damals erst als selbstverwaltetes Land zu formieren begann. Davor bestand es aus zahlreichen kleineren Territorien wie Herrschaften, Gerichten und Talschaften, die nur dadurch verbunden waren, dass sie zu Österreich gehörten, von Innsbruck aus verwaltet wurden und über eine gemeinsame („ständische“) Vertretung gegenüber dem habsburgischen Landesherrn verfügten. Aus diesem Grund verstand man unter „Land“ bis ins 18. Jahrhundert nicht Vorarlberg als Ganzes, sondern dessen kleinere Teilgebiete.
In diesem Sinn ist auch der Ausdruck „Ländle“ zum ersten Mal quellenmäßig nachweisbar, und zwar in einem Schreiben des aus Bregenz stammenden Bludenzer Vogteiverwalters Johann Hinteregger aus dem Jahr 1706. Im Zuge der schon länger andauernden Montafoner Unruhen musste er sich gegen seine Widersacher aus den Reihen des „Gemeinen Manns“ zur Wehr setzen, da sie ihm vorwarfen, dass er sich zugunsten der alten korrupten Führungsschicht parteiisch verhalte. In einer Stellungnahme erwähnte Hinteregger beiläufig, dass die einzige Einkommensquelle der Bauern in disem Ländle der Viehhandel sei. Dabei war der Ausdruck „Ländle“ im vorliegenden Zusammenhang gewiss nicht besonders liebevoll gemeint, unternahmen die Aufrührer im Montafon doch alles, um dem Vogteiverwalter seine Tätigkeit zu vergällen.
Eine innige Beziehung zu Vorarlberg wurde mit dem Begriff „Ländle“ wohl erst im 19. Jahrhundert ausgedrückt. Dabei bestand allerdings ein großer Unterschied zu jenen
Kleinterritorien, die man damals im Rahmen einer verbreiteten romantischen Verklärung der Vergangenheit so nannte, nachdem sie in politische Bedeutungslosigkeit abgesunken oder sogar aufgelöst worden waren. In Vorarlberg verstand man unter „Ländle“ nämlich nicht mehr die ehemaligen Gerichte und Herrschaften, sondern ein größeres politisches Gebilde, das erst im Begriff war, ein selbständiges Land zu werden. Hier blickten keine Bewohner eines modernen Flächenstaats wehmütig auf ehemals vertraute Kleinterritorien zurück. Solche althergebrachten Identifizierungen galt es vielmehr zu überwinden oder zumindest durch ein breiteres Landesbewusstsein zu ergänzen.
Warum aber bezeichnete man das neue größere Land gerade in der Verkleinerungsform als „Ländle“? Den Bezugsrahmen dafür bildete die weitaus größere und bevölkerungsreiche
Grafschaft Tirol, von der sich der kleine Kreis westlich des Arlbergs zu lösen trachtete. 1861 wurde er schließlich zu einem Kronland mit eigenem Landtag erhoben. Auf dem weiteren Weg zur Loslösung von Tirol blieb die Identifizierung mit dem „Ländle“ in den folgenden Jahrzehnten von hoher Bedeutung, auch wenn der Ausdruck oft nur unter Anführungszeichen aufscheint. Seit 1918 betont man damit die Eigenständigkeit gegenüber den anderen Bundesländern. Dabei verdeckt aber selbst die erfolgreiche ökonomische Verwertung des Labels „Ländle“ nicht die Mehrdeutigkeit des Begriffs. So weist ein neuerer Reiseführer eigens darauf hin, die Bezeichnung „Ländle“ sei „nicht verniedlichend, sondern eher voller Achtung“ gemeint. Tatsächlich bedingen Heimatverbundenheit und provinzielle Beschaulichkeit selbst bei einem politisch motivierten Kosenamen nicht unbedingt Kleinkariertheit.
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