Marie-Rose Rodewald-Cerha

Geschäftsführerin der literatur:vorarlberg 

Was Literatur kann

Juli 2022

Ich soll über Literatur schreiben und was meine Motivation ist, mich mit ihr zu beschäftigen. Mehr noch. Anderen weiterzugeben und zu vermitteln, was in ihr steckt.
„Ich kann nicht anders“, liegt mir auf der Zunge und im Herzen. Doch wen überzeugt das schon? Die Linguistin Naomi Baron, die unter anderem zu digitalem und analogem Lesen forscht, zeigt sich nach verschiedenen Studien besorgt über die Tatsache, dass es Menschen gibt, die nie zu ihrem Vergnügen lesen, die sich nicht für andere Standpunkte oder andere Lebenswelten interessieren. Das sei demokratiegefährdend, schreibt sie. Tatsächlich sehen wir allzu deutlich, wie sich in der Gesellschaft die Fronten verhärten. 
Literatur ist Sprache. Und ich glaube an die Wirkmächtigkeit der Sprache. Je mehr ich mich mit ihr beschäftige, umso geübter werde ich, sie auszudeuten und zu verstehen. Literatur ist empathisch. Daher wird die Empathiefähigkeit der Leser:in geschult. In einer Gesellschaft von Leser:innen führt dies zu mehr Diskurs und Toleranz. Und ist es nicht das, was heute mehr denn je nottut, die Anhörung und Akzeptanz des anderen (gut begründeten) Standpunkts? 
Als Geschäftsführerin der literatur:vorarlberg und Vorstandsmitglied im Theater am Saumarkt bin ich an unzähligen Literaturvermittlungsprojekten beteiligt. Besonders wichtig als ehemalige Lehrerin ist mir, Jugendliche für Literatur zu begeistern und sie zum Lesen zu animieren. Die Beschäftigung mit Texten ist immer auch ein Akt der Emanzipation. Was sagt mir der Text? Wie verhält er sich zu meinen eigenen Lebensumständen? Bin ich damit einverstanden? Literatur zeigt uns, wie etwas sein kann und dass es sein kann, in all seiner Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit. Sie ist, wie Marcel Proust einmal sagt „das wahre Leben“.