Wann ist ein Bildungssystem wirklich gut?
Ein Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung anhand verschiedener Indikatoren.
Schon die Anmoderation zeichnet ein negatives Bild: „Das österreichische Bildungssystem kommt im internationalen Vergleich selten gut weg. Schlechte Pisa-Ergebnisse, viele Sitzenbleiber und auch technologieaffine Fachkräfte kommen zu wenige nach. Das Pisa- Vorreiterland Estland kennt diese Probleme nicht.“ Im ORF-„V-Heute“-Bericht vom 21. Oktober dieses Jahres wird das Bildungssystem von Estland gelobt und das österreichische massiv abgewertet. Als Kriterien werden die „Pisa-Ergebnisse“ und die Kosten herangezogen. In Estland „programmieren“ dreijährige Kinder Roboter, und auch sonst scheint alles perfekt zu sein.
Wäre dieser Fernsehbericht ein Einzelfall, könnte man darüber hinwegsehen. Aber das österreichische Bildungssystem schlechtzureden, hat schon länger Tradition. Bei einem Vortrag eines Wissenschaftlers in Dornbirn war Ähnliches zu hören. Das österreichische Schulsystem sei schlecht und teuer, das würden die Pisa-Ergebnisse zeigen. Ich habe den Herrn gefragt, ob er die Berufsbildenden Schulen (BMHS) kenne. Er meinte: „Natürlich kenne ich die Berufsschulen“. Die BMHS kannte er aber nicht. Abgesehen davon, dass es schwierig ist, mit jemandem über die Qualität eines Systems zu reden, der einen zentralen Teil desselben nicht kennt, hat er eines übersehen: Die BMHS sind ein Garant dafür, dass Österreich erfolgreich ist. Minister Martin Polaschek sagte im ORF: „Die Ergebnisse der diesjährigen OECD-Studie zeigen einmal mehr, dass Österreich weltweit auf Platz eins in der Berufsbildung ist.“ Sind also die Pisa-Ergebnisse der richtige Maßstab für die Bewertung eines Schulsystems?
Pisa als Maßstab?
Jedenfalls sind die OECD-Studien widersprüchlich. Diese Institution ist für die Pisa-Studien verantwortlich, mit denen immer wieder Schulsysteme verglichen und bewertet werden. Zumindest Teile der Scientific Community sehen diese Studien sehr kritisch. Dazu gehört der Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann, der jene Rankings, die den Ländern mehr oder weniger Erfolg attestieren, als „statistisches Voodoo“ bezeichnet. Es wird die Auswahl der Schüler und Schülerinnen kritisiert oder die Art der Testformate. Massive Kritik gibt es auch an der Vergleichbarkeit verschiedener Länder. Jedenfalls ist die pauschale Abwertung der Lernenden und der Lehrenden eine Kränkung und keine Anerkennung für die Leistungen.
Schlüsselkompetenz Deutsch
Ist also „alles paletti“ in Österreichs Schulen? Die Antwort ist sehr differenziert. Einerseits erreichen die Absolventen unserer Schulen durchaus Spitzenleistungen und bewähren sich auch im Arbeitsleben, andererseits sind teilweise große Lücken zu beobachten.
Spätestens seit der Einführung der „Zentralmatura“ erkennen wir beispielsweise große Mängel in Deutsch. Auf dieses Thema soll näher eingegangen werden, denn unsere Sprache auf hohem Niveau zu beherrschen, ist außerordentlich wichtig, um im (Berufs-)Leben erfolgreich zu sein. Deutsch hat eine Schlüsselfunktion in vielerlei Hinsicht, auch beim Erlernen von Wissen und Können in anderen Fächern.
Ist das den Lernenden bewusst? Ich darf im Rahmen einer kleinen Lehrverpflichtung in der Abendschule Schüler und Schülerinnen unterrichten, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Diese Situation gab mir die Möglichkeit, die Lernenden zu ihrer Haltung und zur Notwendigkeit, sehr gut Deutsch zu können, zu fragen. Die Umfrage brachte Überraschendes zu Tage. Alle streben nach Absolvierung der Reife- und Diplomprüfung eine höhere Stellung an. Fast alle wollen sogar studieren.
Differenzierter ist aber die Einstellung zur Notwendigkeit, sehr gut Deutsch zu beherrschen. Ein Teil betonte die Bedeutung, andere meinten, dass es wohl abhängig vom angestrebten Beruf sei. Am problematischsten ist aber die Selbsteinschätzung: Alle sind überzeugt, dass ihr sprachliches Niveau „ganz in Ordnung“ bis „sehr gut“ sei. Nur ein Einziger sah sein eigenes Niveau kritisch.
Die formelle Kommunikation im Unterricht und die informelle in den Pausen, die Noten in Deutsch und das sprachliche Niveau der Antworten auf die Umfrage deuten allerdings sehr stark darauf hin, dass sich viele in der Gruppe überschätzen.
Nachdenklich stimmt, dass das Deutsch von zwei Schülern, die erst im Kindesalter zugewandert sind, mindestens gleich gut, vielleicht sogar besser ist als bei solchen, die in Vorarlberg geboren sind. Und nachdenklich stimmt auch folgende Antwort: „Früher als ich viele deutsche Bücher gelesen habe und in der Schule Deutsch gesprochen habe, war meine Zeugnisnote 1. Nachdem ich aufgehört habe zu lesen und mehr auf Türkisch gesprochen habe, hat sich mein Deutsch sehr verschlechtert.“
Haltungen
Es stellt sich die Frage, was da schief-läuft, wenn man bedenkt, dass es in dieser Gruppe Lernende gibt, die in der vierten Generation nach der Migration ihrer Vorfahren in Vorarlberg leben. Es besteht dringender Handlungsbedarf, die Bedeutung der Sprache nicht nur den Lernenden selbst, sondern auch den Eltern noch mehr zu kommunizieren. In Verantwortung ist auch die Politik, die einer möglichst frühen Sprachförderung noch mehr Aufmerksamkeit schenken muss. Aber auch bei Lernenden, deren Muttersprache Deutsch beziehungsweise Vorarl-berger Dialekt ist, hat sich das Niveau verschlechtert. Was kann die Schule tun?
An Schwächen arbeiten
Eines ist gewiss: Kinder mit drei Jahren an einen Roboter zu setzen, wird ganz sicher nicht dazu führen, dass sich ihr sprachliches Niveau verbessert. Besonders wichtig scheint mir die Auffassung zu sein, dass jede Unterrichtsstunde, die nicht in einer Fremdsprache gehalten wird, eine „Deutsch-Stunde“ ist, in der das sprachliche Niveau der Lernenden gefördert werden kann. Genauso wichtig ist es, vorhandene Stärken zu fördern. In unserem Schulsystem ist es gelungen, theoretische Grundlagen mit der (beruflichen) Praxis zu verknüpfen. So besteht beispielsweise in mehreren Schulformen die Pflicht, ein Praktikum zu absolvieren. Sinnvolle Maßnahmen, wie die Einführung der Vorwissenschaftlichen Arbeit in den AHS beziehungsweise der Diplomarbeit in den BHS oder projektartiger Unterrichtsmethoden, sind erfolgreich umgesetzt worden.
Sinnvolle Kriterien
Es ist sehr wichtig, ein Schulsystem anhand verschiedener Indikatoren zu bewerten. Ein Teil davon können durchaus die Pisa-Ergebnisse sein. Zusätzlich angeschaut gehört aber auch die Jugendarbeitslosigkeit, die in Österreich vergleichsweise unterdurchschnittlich ist und in Estland weit über dem Durchschnitt der EU-Länder liegt. Auch die Zahlen der (tatsächlichen) Schulabbrecher beziehungsweise der NEET (Not in Education, Employment or Training) sind zu betrachten. Denn auch hier schneidet Österreich gut, Estland aber wesentlich schlechter ab.
Es ist aber auch anzumerken, dass bei diesen Messgrößen die Zahlen bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund schlechter sind. Das könnte die These stützen, dass eine Ursache die mangelnde sprachliche Kompetenz in Deutsch sein kann.
Doch die genannten Indikatoren bestätigen, dass Österreich im Bereich der beruflichen Bildung recht gut dasteht. Das zeigen auch die jüngsten Erfolge bei den Euro-Skills, wo Österreich als beste Nation abschnitt. Der Hauptgrund dürfte wohl sein, dass die jungen Menschen ab 15 Jahren ein differenziertes Angebot (Oberstufe AHS, BMHS und Lehre) vorfinden. Sie können, orientiert an ihren Interessen, in die Richtung gehen, die sie im Moment für die beste halten. Letztlich entscheidend ist selbstverständlich, ob Menschen glücklich sind. Auch da ist nicht sicher, ob Estland besser abschneidet als Österreich. Jedenfalls ist massiv zu bezweifeln, ob eine frühe Digitalisierung der Bildung die Lebenschancen der jungen Menschen erhöht.
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