Die Kraft des Bildes

Stellen Sie sich vor, Sie gehen über den Kornmarktplatz in Bregenz oder den Marktplatz in Dornbirn und begegnen einem kahlrasierten jungen Mann im Anzug mit weiß getünchtem Kopf. Mit einem Pinsel malt er sich eine dicke schwarze Linie durch die Mitte, sie teilt sein Gesicht und den Kopf in zwei Hälften. Was würde geschehen? Wir würden ihn wahrscheinlich als Spinner abtun und mit betretenem Blick weitergehen. Würden wir es als anstößig empfinden? Wohl eher nicht. Uns vermag ein Szenario wie dieses kaum mehr zu erschrecken. 1965, im Jahr von Günter Brus‘ Aktion Wiener Spaziergang, wurde sein Verhalten noch als widerwärtig und moralisch verwerflich empfunden. Brus wurde von der Polizei abgeführt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Es war nur eine der Aktionen des jungen Künstlers mit dem Ziel, auf politische und gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und die Öffentlichkeit aufzurütteln, sie zu provozieren.
Das Kunsthaus Bregenz zeigt derzeit eine umfassende Ausstellung dieses Ausnahmekünstlers, der Zeichner, Maler und Literat zugleich war und wenige Tage vor der Eröffnung in hohem Alter verstorben ist. Fast 800 Menschen sind zur Eröffnung gekommen. Der kühle Beton des Hauses, das Licht, die kathedrale Anmutung des KUB – sie bilden einen beeindruckenden Rahmen für ein faszinierendes Gesamtwerk, das niemanden kalt lässt. Aktueller könnte eine Ausstellung nicht sein. Gräben und schmerzhafte Risse tun sich auf, dicke schwarze Linien, in Europa und auf anderen Kontinenten. Ich stehe vor der Fotografie von Günter Brus mit weißem Kopf und schwarzem Strich und denke über den Zustand unserer Gesellschaft nach. Eine ins Schwanken geratene politische Mitte und eine gefühlte Unerbittlichkeit, mit der wir uns manchmal begegnen. Eine Person neben mir meint: „Für mich hat die Naht auch etwas Verbindendes, das die Hälften zusammenfügt.“ Ein schöner Gedanke. Die Kraft dieses Bildes ist ungebrochen.

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