Thomas Metzler

ist Philosoph, Publizist, Kommunikations­designer und Medien­experte. Er lebt und arbeitet in Vorarlberg.

Erfahrung der Ungewissheit

Mai 2020

Was der Klimawandel nicht vermochte, gelingt einem Virus namens Sars-CoV-2. Die Schaffung einer neuen Wirklichkeit, die unser Weltverhältnis nachhaltig beeinflussen wird. Was wir vor kurzem noch für selbstverständlich gehalten haben, uns mit Freunden auf ein Glas Bier zu treffen, unsere Kinder zur Schule zu bringen oder ein Fußballspiel zu besuchen, rückt in die Sphäre des Unverfügbaren.
Was moderne Gesellschaften auszeichnet, ist die permanente Expansion, die auf Geschwindigkeit und der Dynamisierung von Prozessen basiert. Was wir derzeit erleben, ist eine Phase der totalen Entschleunigung, eine weitgehende Lahmlegung von eingeübten sozialen, politischen und ökonomischen Diskursen. Dieser partielle Stillstand lässt uns erfahren, wie schnell gewohnte Muster aufbrechen und existenzielle Parameter sich ändern. Die Sehnsucht der Moderne galt der Vorstellung, die Welt in Reichweite zu bringen und die Dinge beherrschbar zu machen. Doch das Leben fügt sich nicht unseren Optimierungsstrategien, Kontingenz und Unbeständigkeit bleiben auch weiterhin Konstanten unseres Daseins. Wir können uns gesund ernähren, Sport machen, uns medizinisch versorgen, doch über Krankheit und Tod können wir nicht nach Belieben verfügen. Auch die technische Entwicklung mit ihren digitalen Verheißungen ist kein Garant für Sicherheit, der Zwang zur ökonomischen Steigerung kein Weg, unsere Weltbeziehung zu vertiefen. Zudem engt das Streben nach völliger Planbarkeit den Horizont möglicher Erfahrungen ein, macht aus einer lustvollen Weltbegegnung ein steriles Verhältnis zu uns selbst und unserer Umwelt.
Die Erfahrung der Ungewissheit ist somit auch eine Chance, unsere Selbstbilder zu erforschen, Selbstwirksamkeit zu erfahren und eine neue Form der Lebendigkeit zu kultivieren.