40 Jahre Wirtschaftsarchiv Vorarlberg
Wie aus den Plänen für ein Industriemuseum das Wirtschaftsarchiv Vorarlberg wurde.
Eine kleine Personengruppe dachte 1982 und 1983 in mehreren Sitzungen darüber nach, wie man das Wissen über die Vorarlberger Wirtschafts- und insbesondere die Industriegeschichte vermehren und die Verbundenheit der Bevölkerung mit dem Industrieland Vorarl-berg stärken könnte. Funktionäre der Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung sowie Historiker und Lehrer – allesamt Männer – vertraten die Ansicht, dass Objekte und Schriftgut gesichert und in einer „Dokumentationsstelle“ gesammelt werden sollten, um auf dieser Quellenbasis moderne wirtschaftshistorische Werke zu verfassen, an denen es in Vor-arlberg zu dieser Zeit noch mangelte. Ende 1983 wurde der „Verein Vorarlberger Industriegeschichte“ (VVI) aus der Taufe gehoben, der diese Ziele verfolgte. Umgehend wurde begonnen, historisches Schriftgut, Maschinen und Geräte aus stillgelegten und noch aktiven Industriebetrieben zu sammeln.
Anfang 1985 wurde in der Vollversammlung des Vereins zu Protokoll gegeben: „Wie Ihnen vielleicht bekannt sein dürfte, plant der Verein als mittel- bis längerfristiges Projekt die Errichtung eines Industriemuseums. Dieses Vorhaben wird vom Land Vorarlberg sehr begrüßt.“ Der VVI erstellte ein Umsetzungskonzept und machte sich auf die Suche nach Partnern. Als ab Mitte der 1980er-Jahre jedoch absehbar wurde, dass die Zeit nicht reif für ein Industriemuseum war, stellte der Verein die Sammlung von Objekten weitgehend ein und konzentrierte sich fortan auf die Sammlung von historischem Schriftgut. Die Idee eines Industriemuseums wurde in den folgenden Jahren zwar immer wieder von wechselnden Akteuren aufgegriffen, zur Realisierung kam es aber nicht. Wie sich erst später herausstellen sollte, war aber das ursprünglich nur als Mittel zum Zweck errichtete Wirtschaftsarchiv ein nachhaltiger Erfolg; es erarbeitete sich einen guten Ruf als Wissenschafts- und Kultureinrichtung, die von vielen Kräften im Land gewünscht und gefördert wird.
Diese stark verkürzte Erzählung greift freilich nicht die weiteren Motive auf, die mit ausschlaggebend für die Gründung des Wirtschaftsarchivs waren, das übrigens bis heute das einzige regionale Wirtschaftsarchiv in Österreich ist. Eine profunde Aufarbeitung der Vereinsgeschichte lieferte Christian Feurstein in seinem Aufsatz „Das Gedächtnis der Vorarlberger Wirtschaft: Von der ‚industriegeschichtlichen Dokumentationsstelle‘ zum einzigen regionalen Wirtschaftsarchiv Österreichs“, der auf der Internetseite des Wirtschaftsarchivs zum freien Download angeboten wird: wirtschaftsarchiv-v.at/ files/Geschichte_WAV_Feurstein.pdf
Seit den 1980er-Jahren hat sich viel verändert. Das Wirtschaftsarchiv hat seine Agenda ausgedehnt, kümmert sich nicht mehr ausschließlich um die Geschichte der Vorarlberger Industrie, sondern um die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Landes in seiner gesamten Breite. Der Sammlungsauftrag wurde auf alle Wirtschaftszweige erweitert, außerdem wurden Sondersammlungen initiiert, deren bekannteste die große Plakatsammlung des Wirtschaftsarchivs ist, die zum Teil online auf dem Vorarlberger Landesrepositorium „Volare“ zur Verfügung steht.
Oral History
Eine weitere Sondersammlung bildet die Interviewserie „verdiente Persönlichkeiten der Vorarlberger Wirtschaft“. Dieses Oral History-Projekt läuft seit 1997, 123 Personen wurden bisher zum Interview gebeten. Darunter befinden sich nicht nur „Wirtschaftskapitäne“, sondern auch andere „verdiente Persönlichkeiten“ bis hin zum vielzitierten „einfachen Arbeiter“. Alle Gespräche werden aufgezeichnet und verschriftlicht, sie können im Wirtschaftsarchiv eingesehen und angehört werden. Die Interviews werden als lebensgeschichtliche Erzählungen geführt, also möglichst unterbrechungsfrei mit einigen Leitfragen. Die angeschnittenen Themen betreffen beispielsweise die Kindheit, Sozialisierung, Ausbildung, Berufserfahrung, Meilensteine und so weiter. Dadurch kommen hochinteressante Erzählungen zustande, die tiefe und anderweitig nicht quellenmäßig fassbare Einblicke in das Wirtschaftsleben geben.
Beratung
Eine weitere Aufgabe des Wirtschaftsarchivs Vorarlberg ist die Beratung von Unternehmen bei der Einrichtung und Führung von Firmenarchiven. Unternehmen unterliegen keiner Verpflichtung zur Langzeitarchivierung ihrer Unterlagen. Der Wert eines gut geführten Archivs übersteigt aber die Kosten. Archive als Gedächtnis eines Unternehmens tragen zur Dokumentation von Prozessen (Records Management) und zur Rechtssicherheit bei. Neben diesen traditionellen Aufgaben spielen sie in der internen wie externen Kommunikation eine bedeutende Rolle, sie stärken die Corporate Identity und die Mitarbeiterbindung. Sie tragen zur Produktentwicklung bis hin zu Marketing und Design bei. Durch Führungen, Publikationen und Ausstellungen steigern Unternehmensarchive die Reputation gegenüber Kunden und unterstützen die Bildung von Markenidentitäten.
Forschung
Das Wirtschaftsarchiv hat den Auftrag, die Vorarlberger Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu beforschen und die Ergebnisse zu verbreiten. Dies geschah in den vergangenen 40 Jahren durch Ausstellungen, Vorträge und Publikationen. Besonders hervorzuheben sind die vielfältigen Vernetzungen und Kooperationen mit anderen Wissenschafts- und Kultureinrichtungen. So veranstaltete das Wirtschaftsarchiv zuletzt gemeinsam mit der Universität Innsbruck eine internationale Tagung zum Thema „Regionale Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Zeitalter globaler Krisen“. Die dort vorgetragenen Beiträge erschienen im November 2023 in einem Buch mit demselben Titel.
Offenes Haus
Das Wirtschaftsarchiv wird als gemeinnütziger Verein geführt, gibt sich aber nach außen wie ein öffentliches Archiv. Es werden Anfragen beantwortet, Benutzer betreut und Archivführungen angeboten. Wir ermuntern dazu, mit unseren Beständen zu arbeiten, etwa in Ausstellungen oder in der Wissenschaft. Als offenes Haus für alle an der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Landes Interessierten freuen wir uns über rege Austauschbeziehungen!
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