Gerhard Siegl

Historiker, Wirtschaftsarchiv Vorarlberg

Die Erfindung „raffinierter Bösewichte“

Juni 2024

Wie und weshalb im 19. Jahrhundert gegen die Fabrikarbeit angeschrieben wurde.

Als im Zuge der Industrialisierung das moderne Fabrikwesen in Vorarlberg Einzug hielt, waren die Meinungen darüber gespalten. Zu den anerkannten Vorteilen gehörte die Möglichkeit eines Arbeitsverdienstes für viele Menschen. Mit der Steigerung der Inlandsproduktion verringerte sich auch die Abhängigkeit vom Ausland und der Binnenmarkt wurde gestärkt. Schließlich profitierte neben den Unternehmern und Kapitalgebern auch das Staatswesen durch Einnahmen aus Zöllen und Steuern. Fabriken entpuppten sich als ökonomisches Erfolgsmodell und prägten den Weg in die moderne Wirtschaftsordnung; sie existieren seit über 200 Jahren als Orte von Produktion, Arbeit, Wertschöpfung und Innovation.

„Wir waren von jeher so frei, in der vorarlbergischen Industrie kein großes Glück zu erblicken“
In Tirol und Vorarlberg leisteten Adel und Klerus allerdings Widerstand gegen das Vordringen der Fabriken. Sie bangten um ihren Einfluss und ihre Machtpositionen in Gesellschaft und Politik. Die Vertreter des alten Feudalsystems gaben religiöse und konfessionelle Gründe vor, um das Fabrikwesen als Gefahr für die Gesellschaft zu diskreditieren. Argumente gegen die Fabrikarbeit wurden in der sehr populären Tageszeitung „Bothe für Tirol und Vorarlberg“ vorgebracht. „Wir waren von jeher so frei“, schrieb der Autor des „Boten“ im Jahr 1865, „in der vorarlbergischen Industrie […] kein großes Glück zu erblicken“, denn die Entwicklung des Fabrikwesens sei mit „dem physischen und moralischen Bestande der Bevölkerung“ nicht vereinbar. Die „Anhäufung von Reichthum“ ginge einher mit dem „Siechthum der Bevölkerung in geistiger und körperlicher Beziehung“. Als Gewährsleute für diese Aussage wurden Lehrer, Ärzte, vor allem aber die Stellungskommissionen des Militärs genannt. Das „elende Dasein“ der Menschen resultiere aus dem Schicksal, auf den Fabrikverdienst angewiesen zu sein. Kinder „von höchstens 7 bis 8“ würden in großer Anzahl „in die mit verpesteter Luft gefüllten Arbeitssäle“ gestellt. 13 Stunden würden sie dort bei „einer monotonen, weder Herz noch Geist anregenden Beschäftigung“ verbringen. Dadurch leide der Schulunterricht, der sich auf „wenige Wintermonate“ beschränke. Nach dem 12. Lebensjahr gab es oft gar keinen Schulbesuch mehr. Auch die Ernährung sei höchst mangelhaft und bestehe nachweislich bei vielen Familien aus Erdäpfeln und Kaffee. Die Kleidung sei erbärmlich, die Kinder im Winter manchmal ohne Schuhe. Durch die langen Dienstzeiten seien die Kinder den Eltern praktisch entzogen, sie könnten keine Aufsicht mehr ausüben. Die Kinder würden sich in der Fabrik auch rasch an ihre frühe Unabhängigkeit von den Eltern gewöhnen und mit ihrem eigenen Geld „lärmend die Straßen entlang“ ziehen. Außerdem würden die Knaben in den Fabriken nur lernen, wie Fäden angeknüpft und Spulen aufgesteckt werden. Wenn die Fabrik stillstehe, könnten sie nichts und fielen der Allgemeinheit zur Last. Sie seien in den Fabriken „eingeschlossen“, würden dort verweichlicht und gewöhnten sich nicht mehr an härtere Arbeiten. Die Mädchen lernten keine häuslichen Tätigkeiten wie Nähen, Stricken, Kochen. Die Jugend sei dem Schul- und Kirchenbesuch entzogen, fehlende Ausbildung und mangelnde Erziehung zum Christentum seien die nachteiligen Folgen für die Betroffenen und für die Zukunft der Gesellschaft. Die Kinder würden in den Fabriken „roh, ungelehrig, trotzig und widerspenstig“, denn die Aufseher würden oft fluchen und seien „aufbrausend und zornmüthig“. Die Kinder wären in der Folge „rachsüchtig, boshaft und halsstarrig“. In der Schule gelinge es kaum noch, ihnen etwas beizubringen. In Summe würden die Fabriken „keinen wohlthätigen Einfluß“ ausüben und die Gesellschaft bei einer Ausbreitung des Fabrikwesens „auch jener moralischen Verwilderung entgegen gehen, welche wir in den Fabriksländern [gemeint ist England, Anm.] gewahren“. 

Sittlichkeit
Was die Sittlichkeit betrifft, waren die „Katholischen Blätter“ 1846 die publizistische Speerspitze gegen die Fabriken. Es wurde praktisch jeder verdächtigt, gegen die Sittlichkeit zu verstoßen, denn die Möglichkeit allein wurde als ausreichend interpretiert, und davon gab es genug: beim „Zusammensein der Geschlechter“ während der Arbeit, beim „ungehinderten Austausch leichtfertiger Reden“ oder etwa beim „gemeinschaftlichen Nachhausegehen“ zu oft nächtlicher Stunde. Den Fabrikanten, Aufsehern, aber auch den Arbeitskräften wurde unterstellt, „zahlreiche Verführungsversuche“ und „schändliche Unzucht“ zu betreiben. „Auch die Direktoren und Inhaber der Fabriken können zur Klasse unsittlicher Menschen gehören.“ Und falls das nicht der Fall war: „Es gibt keine Bürgschaft dafür, dass solche Abscheulichkeiten nicht vorkommen würden.“ Sogar „ausdrucksvolle Mienen und Geberden“, die in den Arbeitssälen aufgrund des Lärms zwischen den Beschäftigten ausgetauscht wurden, waren den Katholischen Blättern bereits verdächtig. „Raffinierte Bösewichte“ würden „die Gefühle für Zucht und Schamhaftigkeit ersticken“. Es würde „eine verheerende Leidenschaft entzündet, die die wildesten und unnatürlichsten Ausschweifungen zur Folge“ hätten.

Gesundheit
Auch die Gesundheit der Beschäftigten werde in den Fabriken untergraben. Die gleichförmige Arbeit an sechs Tagen in der Woche habe eine „zerstörende Wirkung auf Körper und Geist“. Es gebe keine Stunde der Erholung, keine Lebensfreude, keine Hoffnung, die Kinder bekämen keine Erziehung und würden schlussendlich zu den Maschinen, die sie bedienen, „krank an Leib und Seele und reif für ein frühes Grab“. Die Fabriksarbeiter wären „lauter magere, abgehärmte Gestalten“. Sie seien den größten Teil des Tages unreiner Luft ausgesetzt. Die Luft sei von Baumwollstaub und verschiedenen „Gasen“ von Verbrennungsvorgängen (Beleuchtung, Maschinen, Öle) erfüllt. Ärzte würden bei den Frauen Krampfadern feststellen, Anschwellungen der Beine und Geschwüre. Chronische Krankheiten, fehlerhafte Blutbildung und Ernährung, Bleichsucht, Hysterie, Magen- und Verdauungsschwäche, Hautausschläge usw. führten zu einem „schleichenden Siechthum“ der Beschäftigten und zu einem „elenden, verkümmerten Aussehen“. Ein „bisweilen namhafter Lohn“ könne für solche Opfer nicht entschädigen, denn durch zu frühe Fabrikarbeit würde in die Jugend „der Keim aufzehrender Krankheiten und eines frühen Todes gepflanzt“. Fabriken seien daher kein „Glück“ für das Land. Wer arbeitsunfähig wird, sehe sich „hinausgestoßen“, der Bettel nehme zu, und die zur Armenversorgung verpflichteten Gemeinden würden belastet. Dies sei „die Kehrseite der vielgepriesenen Herrlichkeit“ der Fabriken.

Die Kritiker hatten in vielen Punkten Recht
Das Anschreiben gegen Fabriken beruhte nicht allein auf einem Positionskampf um gesellschaftliche Macht und Deutungshoheit, sondern knüpfte an reale Gegebenheiten an. Gerade die Sorge um die „Sittlichkeit“ hatte einen handfesten Hintergrund, denn es wurde befürchtet, dass bei steigender Fabrikarbeit die Bevölkerungszahl stieg. Heute wird eine höhere Bevölkerungszahl positiv bewertet: Mehr Menschen bedeuten mehr Arbeitskräfte, mehr Konsumenten, einen potenteren Binnenmarkt und damit einen höheren Wohlstand. In der Vormoderne waren steigende Bevölkerungszahlen hingegen mit negativen Erfahrungen verbunden: Mehr Menschen bedeuteten oft mehr Hunger, Armut, erzwungene Saisonarbeit im Ausland oder gar Auswanderung. So war es auch in Vorarlberg. Nicht umsonst wurden 1820 gesetzliche Ehebeschränkungen eingeführt und 1850 sogar verschärft. Heiraten – und damit nach offizieller Lesart auch legitime Nachkommen erzeugen – durfte nur, wer eine obrigkeitliche Bestätigung über Leumund und Einkommen nachweisen konnte. Die zunehmende Fabrikarbeit unterwanderte diese Maßnahme zur Verhinderung eines ungeregelten Bevölkerungswachstums, denn nun konnten mehr Menschen ein Einkommen nachweisen. Der Lustenauer Pfarrer äußerte sich 1827 besorgt: „Auf so unsicheren Fabrikverdienst hin, der schon morgen aufhören kann, und der nur angewöhnten Luxus, Wohlleben und Sittenlosigkeit zurückläßt, muß man Alles heurathen lassen, sei man noch so jung, unverständig und bettelarm.“ Vorarlberg war zwar nicht Manchester, aber auch hier änderte das Fabrikwesen mit Lohnarbeit und Kinderarbeit die Gesellschaft grundlegend.
Die „soziale Frage“ beziehungsweise „Arbeiterfrage“ wurde als Fehlentwicklung des Manchester-Liberalismus der frühen Industrialisierung diskutiert und schließlich bewältigt. Sozialversicherungen, Arbeitszeitgesetz, Urlaub, Arbeitnehmerschutz, Verbot der Kinderarbeit und vieles mehr waren Errungenschaften des späten 19. und 20. Jahrhunderts. 

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