Gerhard Siegl

Historiker, Wirtschaftsarchiv Vorarlberg

Wissensspeicher der heimischen Wirtschaft

Dezember 2020

Das Wirtschaftsarchiv Vorarlberg

Wozu Archive? Wozu das Wirtschaftsarchiv?

Mit der Erfindung der Schrift ging der Wunsch einher, das Geschriebene später wieder lesen zu können, also zu archivieren. Die wichtigsten Gründe dafür waren rechtlicher und wirtschaftlicher Natur: Ohne Archiv konnten Schulden und Guthaben nicht verwaltet, Verträge nicht mehr gefunden werden. Mit dem Verlust von Dokumenten gingen unter Umständen Rechtsansprüche verloren. Das galt zur Zeit des antiken Roms oder im Mittelalter ebenso wie heute. Archive haben sich im Laufe der Zeit zu vertrauenswürdigen, sicheren Aufbewahrungsorten entwickelt. Sie wurden nach und nach von den Schatzkammern der Herrschenden und den Truhen der Frauenzimmer in zugangsgesicherte, klimatisierte Tiefenspeicher verlegt.
Das Wesen von Archiven hat sich über die Jahrhunderte von reinen Aufbewahrungsorten zu Orten des Wissens (Wissensspeicher) und Forschens verändert und erweitert. Unsere Kenntnisse über die Vergangenheit entspringen größtenteils den Archiven beziehungsweise der Interpretation von dort eingelagerten Beständen. Das ändert sich auch in Zeiten der Digitalisierung nicht. Archive sind Lernorte, sie bewahren unser kulturelles Erbe und sind unser kulturelles Gedächtnis. 
Freilich trifft das auch auf das Wirtschaftsarchiv Vorarlberg (WAV) zu. Was heute dort archiviert wird, ist in Jahrhunderten das Wissen über unsere Zeit. So wie wir heute den Wert ägyptischer Papyri oder mittelalterlicher Urkunden hochschätzen, werden unsere Nachfahren unsere gegenwärtigen Archivierungstätigkeiten nicht nur dankbar anerkennen, sie werden auch die Wissensbasis der Zukunft sein.

Seit 1983

Die Gründung des WAV fiel 1983 in eine Zeit, die durch den Einbruch der Textilwirtschaft gekennzeichnet war. Mit ihr drohte Vorarlberg einen Teil seiner Identität zu verlieren. Die Textilwirtschaft war im 18. Jahrhundert zum bedeutendsten Industriezweig Vorarlbergs herangewachsen und behielt ihre dominierende Stellung bis weit ins 20. Jahrhundert. Sie war weit mehr als nur einer von vielen Wirtschaftszweigen, sie wirkte auf das Arbeitsleben vieler Generationen und nahm so auch Einfluss auf das soziale, kulturelle und politische Leben in Vorarlberg. Ihr rascher Bedeutungsverlust in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde als dramatisch empfunden. Nur wenige Betriebe der einst so zahlreichen Textilunternehmen überstanden den tiefen Strukturwandel und besetzen seither erfolgreich Nischen. 
Schon damals, Anfang der 1980er Jahre, stand die Schaffung eines Industriemuseums zur Diskussion, um das kulturelle Erbe dieser im Schwinden begriffenen Industriekultur zu erhalten. Daraus wurde bekanntermaßen nichts, aber aus den Vorarbeiten dazu entstand das WAV mit dem Zweck, Quellen zur Wirtschaftsgeschichte Vorarlbergs zu archivieren, die Erforschung der Wirtschaftsgeschichte voranzutreiben und ihre Ergebnisse zu verbreiten. 

Wohin mit historischen Unterlagen?

Das WAV hat aber noch einen weiteren, vierten Vereinszweck, nämlich die Beratung beim Aufbau historischer Firmenarchive. Traditionsbewusste Unternehmen betreiben in der Regel eigene Firmenarchive, wie etwa die Mohrenbrauerei, F.M. Hämmerle oder Getzner, Mutter & Cie. Sofern diese Firmenarchive nicht von professionellen Archivaren betreut werden, unterstützt das WAV diese – und freilich auch kleinere – Unternehmen mit Beratungsleistungen, die vom physischen Aufbau eines Archivs bis zur digitalen Langzeitarchivierung reichen. Immer wieder kommt es aber auch vor, dass Unternehmen übersiedeln, aus- oder umbauen oder ihren Betrieb dauerhaft einstellen. In diesen Fällen droht historisches Material verloren zu gehen, und das WAV bietet sich an, um Firmenunterlagen vor der Vernichtung zu bewahren. Zum Glück werden wir bei „Gefahr in Verzug“ oft genug vor der Entsorgung angerufen und dürfen wertvolles Material übernehmen, das bei uns gesichtet, bewertet, verzeichnet und archiviert wird. Unternehmer, die uns ihre historischen Unterlagen anvertrauen, wissen im WAV einen sicheren Platz dafür. Zur Erleichterung über den Platzgewinn im eigenen Haus mischt sich manchmal Stolz, wenn Materialien als „archivwürdig“ klassifiziert werden. Denn mit der Aufnahme ins WAV werden vermeintlich wertlose Bestände zu dauerhaft aufbewahrten Archivalien aufgewertet, die laufend gepflegt werden und der Nachwelt zur Verfügung stehen. 

Wertloses Altpapier?

Historische Firmenarchive dienen aber keineswegs nur einem künftigen Nutzen, der in der Gegenwart schwer einzuschätzen ist. Ganz im Gegenteil sind funktionierende Archive für jene Unternehmen, die auf ihre Pflege Wert legen, eine besonders ergiebige Fundgrube für PR und Marketing. Unternehmen mit aktiv kommunizierter Geschichte werden im Gegensatz zu „geschichtslosen“ Konkurrenten als vertrauenswürdiger, seriöser, nachhaltiger und verlässlicher wahrgenommen. Daher wird auch jungen Unternehmen geraten, ein Firmenarchiv aufzubauen, das dann nicht nur bei Firmenjubiläen nützlich ist, sondern in alle laufenden betrieblichen Prozesse eingebunden ist (Stichwort „Records Management“). 

Wie funktioniert das WAV?

Das WAV ist ein gemeinnütziger Verein, der von Mitgliedern und fünf großen Förderern getragen und finanziert wird. Zu den Förderern gehören die Wirtschaftskammer, das Land Vorarlberg, die Arbeiterkammer, die Industriellenvereinigung und die Stadt Feldkirch. Zu den Mitgliedern zählen neben vielen heimischen Wirtschaftsbetrieben zahlreiche Gemeinden. Durch diese – österreichweit einzigartige – Struktur ist das WAV sehr breit aufgestellt und darf sich zurecht als landesweite Initiative zur Erhaltung und Aufbereitung wirtschaftsgeschichtlichen Schriftguts verstehen.

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