Herbert Motter

„Das größte Risiko ist es, kein Risiko einzugehen!“

Mai 2019

Professor Kurt Matzler glaubt an eine zweite Chance Europas im Digitalisierungs-Wettbewerb.
Entscheidend dafür ist die industrielle Kompetenz und mehr Mut zum Wagnis.

Herr Professor Matzler, Sie sprechen von den digitalen Disruptionen als eine Art Schumpetersche Zerstörung im modernen Gewand! Was meinen Sie damit konkret?

Mit Disruption meinen wir neue Produkte oder Geschäftsmodelle, die alte oder bestehende ablösen: Neues und Besseres entsteht, Altes wird zerstört. Jede Branche ist von der Digitalisierung betroffen, in vielen sind die Veränderungen grundlegend. Neue Geschäftsmodelle lösen alte ab – in immer kürzeren Zeitabständen. Viele Unternehmen haben damit ihre Schwierigkeiten. Sie unterschätzen die Dynamik und reagieren zu langsam. In der Regel sind es Neueinsteiger und Start-ups, deren disruptive Geschäftsmodelle Branchen verändern oder gar überflüssig machen: Netflix, Uber, Amazon, Tesla, Airbnb sind nur ein paar Beispiele.
 
Wie wirkt dabei die Digitalisierung?

Auf unterschiedlichen Ebenen: Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen, Digitalisierung von Prozessen und Entscheidungen, Digitalisierung von Geschäftsmodellen. Die Treiber für diese Entwicklungen sind das Internet der Dinge, Big Data, Robotik, 3D-Druck, soziale Netzwerke, das mobile Internet und Cloud Computing.
 
Digitale Transformationen verändern also unsere Unternehmen radikal.

Es gilt der Grundsatz, dass alles, was digitalisiert werden kann, digitalisiert wird. Selbst die trivialsten Produkte werden etwa mit Sensoren ausgestattet. Diese Sensoren sammeln Daten und mit diesen Daten werden digitale Services angeboten. Die nächste Ebene der Digitalisierung stellt die Automatisierung von Prozessen und Entscheidungen dar. Industrie 4.0, Big Data, Algorithmen und künstliche Intelligenz sind hier die Schlagworte. Man geht davon aus, dass Industrie 4.0 zu 30 Prozent schnelleren und zu 25 Prozent effizienteren Produktionssystemen führen wird. Und die dritte Ebene sind neue digitalen Geschäftsmodelle.
 
Vielen Unternehmen ist die digitale Disruption aber noch gar nicht bewusst. Wie „überlebt“ man?

Ein erfolgreiches Digitalisierungsprojekt beginnt beim Kunden. Welches Problem des Kunden lösen wir und wie können wir das digital noch besser machen? Dann sollte man das gesamte Geschäftsmodell durchleuchten: Welche digitalen Technologien helfen mir, den Kundennutzen zu steigern oder die Effizienz zu erhöhen. Wer nicht in ganzen Geschäftsmodellen denkt, produziert Insellösungen! In diesem Prozess ist es sehr hilfreich, sich zu öffnen und Ideen von außen zu holen.
 
Ihrer Meinung nach sollten die Unternehmen sich sogleich die Frage stellen: „Was würde Silicon Valley tun, wenn es meine Branche zerstören wollte?“ 

Nach wie vor sind sich viele Unternehmen der disruptiven Gefahren gar nicht bewusst! Viele Vorstandchefs reisen zurzeit ins Silicon Valley, um sich dieser Frage zu stellen. Denken in Risiken kann zunächst sehr hilfreich sein. Es macht sensibel für die Gefahren, zeigt disruptive Bedrohungen auf und mobilisiert. Wer in Risiken denkt, muss aus der Komfortzone. Das größte Risiko, um mit Marc Zuckerberg zu sprechen, ist es, kein Risiko einzugehen: „Disrupt or be disrupted!“. Um sich selbst zu erneuern – und zwar rechtzeitig – müssen Unternehmen Bereitschaft zeigen, sich selbst zu zerstören, zumindest gedanklich, bevor es andere dann physisch tun. 

 

Wir haben etwas, was das Silicon Valley nicht hat: Wir haben die Industrie vor Ort, wir haben operative Exzellenz.

Also ab nach Kalifornien?

Eine Reise ins Silicon Valley ist dabei gar nicht unbedingt nötig. Setzen Sie sich mit einem fiktiven Wettbewerber auseinander, der sich bestens mit der Zukunft arrangiert, alle Hebel der Digitalisierung zieht und das Geschäft nach ganz neuen Regeln betreibt und Ihnen so wirklich gefährlich werden kann. Diese Auseinandersetzung hilft, die Energie der kreativen Verzweiflung zu bündeln, zeigt Gefährdungspotenziale auf, hilft aber vor allem, rechtzeitig neue Geschäftslogiken zu finden. 
 
Wie gut ist „Europa“ im Bereich der digitalen Transformation aufgestellt?

Die erste Runde ist tatsächlich ans Silicon Valley gegangen. Es ist ein ganzes Ökosystem, das hier einzigartig wirkt: Es ist explosives Gemisch von Kapital, Ideen, Disruptionsgeist und Risikobereitschaft. Die erste Runde der Digitalisierung waren Lösungen für Konsummärkte. Die zweite Runde ist die Digitalisierung der Industrie. Die nächste große Sache ist das Internet der Dinge. Da haben wir etwas, was das Silicon Valley nicht hat: Wir haben die Industrie vor Ort, wir haben operative Exzellenz. Daher glaube ich, wird die zweite Runde an uns gehen. Wir sehen ja jetzt schon, dass einige amerikanische Digitalisierungsgiganten kräftig bei uns investieren. Das müssen wir nutzen.
 
Eine fehlende „Kultur des Scheiterns“ hindert uns aber, besser zu werden.

Ja, eindeutig. Wir brauchen eine neue Kultur, um die Innovationsfähigkeit zu entfesseln. Wir brauchen große Anreize für erfolgreiche Innovationen und kleine Strafen für Fehler. In den meisten Unternehmen finden wir genau das Gegenteil vor. Im Silicon Valley herrscht der Grundsatz: Schneller Fehler zu machen, um schneller zu lernen!
 
Was nährt Ihre Hoffnung, dass „Europa“ die weiteren Runden in Sachen Digitalisierung nicht auch noch verliert?

Ich denke, Europa ist aufgewacht und hat die Dringlichkeit erkannt. Wir brauchen aber einiges: Erstens: Infrastruktur. Allein das schnelle Internet ist in vielen Ländern kaum vorhanden. Zweitens: Bildung und Ausbildung. Drittens: die massive Unterstützung der Start-up-Szene. Viertens: Risikokapital. Starts-ups brauchen Risikokapital zur Skalierung, davon haben wir in Europe ungefähr nur ein Sechstel im Vergleich zu den USA. Fünftens: vernünftige Rahmenbedingungen. Dazu gehören z.B. Datenschutz und -sicherheit. Was wir aber vor allem brauchen, ist viel mehr Mut zum Risiko.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Kurt Matzler ist Professor für Betriebswirtschaft an der Freien Universität Bozen und Gastprofessor an der Universität Innsbruck. Matzler beschäftigt sich mit den Themen Innovation, Leadership und Strategie.

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