Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Der chinesische Drache als Investor in Europa

September 2017

Chinesische Investoren übernehmen in Europa und in den USA ganze Branchen, und das in immer noch schnellerem Tempo – China-Expertin Ulrike Reisach (53) im „Thema Vorarlberg“-Interview über das Reich der Mitte und den Umstand, dass sich die Europäer zu lange auf den europäischen Binnenmarkt und auf die USA konzentriert – und China vollkommen unterschätzt hatten. „Wir müssen uns bewusst sein, was da abgeht“, sagt Reisach, „wir müssen erkennen, welche technologischen Felder besetzt werden.“

In diversen Medienberichten heißt es, dass chinesische Konzerne spätestens seit 2016 damit begonnen hätten, in aufsehenerregendem Tempo Beteiligungen in Europa und in den USA zu erwerben. Stimmt das denn so, Frau Professor?

Chinesische Investments in Europa und den USA begannen schon weit früher, fielen in der Öffentlichkeit allerdings nur dann auf, wenn es sich um die Übernahme bekannter Markennamen handelte: etwa die Schneider Rundfunkwerke sowie die französischen Firmen Thomson und Alcatel, die zwischen 2002 und 2005 aufgekauft wurden. Oft aber handelte es sich um mittelständische B2B-Hersteller – oder um kleinere Beteiligungen und Neugründungen, die Schritt für Schritt erfolgten. Ein Beispiel dafür ist das Piräus-Investment. Zuerst erwarb eine chinesische Reederei dort 20 Prozent.

Das ist jetzt anders.

Ja. Seit dem Vorjahr gehört den Chinesen die Mehrheit an Griechenlands wichtigstem Hafen. In anderen Ländern war es ähnlich, wir Europäer haben allerdings lange Zeit nicht realisiert, was da wirklich abgeht. Gezuckt hat man nur, wenn es um Übernahmen großer Firmen ging, wie beispielsweise des Automobilzulieferers Saargummi im Jahr 2011. Richtig aufgewacht ist man im Vorjahr, als Chinesen unter anderem den Kunststoff-Maschinenbau von Krauss-Maffei und den Robotik-Spezialisten Kuka, ein börsennotiertes deutsches Unternehmen, übernahmen. Als sie dann noch starkes Interesse an einer Übernahme des Agrarkonzerns Syngenta anmeldeten, war das ein großes Thema, weil es dabei ja um Düngemittel, im weiteren Sinn also um eine mögliche Beeinflussung des weltweiten Ernährungsmarktes geht.

In welchen Firmen stecken chinesische Investments? Können Sie bitte ein paar Beispiele nennen?

Ein paar sind bekannt, etwa die ganz Großen wie Huawei und ZTE. Daneben gibt es chinesische (Mit-)Eigentümer bei Volvo, Fiat, Peugeot Citroen, Pirelli. Auch im Finanzsektor finden sich zahlreiche chinesische Investoren, in Deutschland etwa beim Bankhaus Hauck-Aufhäuser und neuerdings auch bei der Deutschen Bank. Chinesische Investitionsgelder stecken in der London Heathrow Holding, im Club Med, in den Louvre Hotels, in der Telekom Italia und bei Atlético Madrid. Das sind nur ein paar Beispiele von vielen. Im internationalen Kontext – in Russland, Zentralasien und Afrika – finden wir vor allem rohstoffbezogene Investments, aber auch Investments in die Infrastruktur. Für die Investoren kommt es immer darauf an, was die Länder zu bieten haben.

Inwiefern?

Zwar gibt es viele private chinesische Unternehmen, auch staatliche und halbstaatliche, die mitnehmen, was gerade günstig zu kaufen ist, weil sie auf diese Art ihr Portfolio diversifizieren und einen Fuß im europäischen Markt haben. Aber man sucht sich schon in den jeweiligen Ländern die für China interessantesten Branchen heraus. Während in Osteuropa, etwa in Bulgarien, neben der Landwirtschaft auch die Infrastruktur, insbesondere der Schwarzmeerhafen Burgas, im Fokus des chinesischen Interesses steht, weckt in Westeuropa die Industrie Begehrlichkeiten. Insgesamt haben chinesische Investoren in der EU und ihren 28 Mitgliedsländern zwischen 2000 und 2015 rund 20 Milliarden Euro investiert. Davon flossen seit 2010 bis zu acht Milliarden in Neugründungen und Firmenkäufe in Deutschland, Großbritannien und Frankreich. In Deutschland stehen vor allem die Automobilindustrie, der Maschinenbau und die Informationstechnologie im Fokus. Besonders der Mittelstand und sein Spezial-Know-how sind gefragt …

Folgen die chinesischen Investments dabei einem übergeordneten Plan?

Ob das so dezidiert aus China vorgegeben wird, bezweifle ich. Klar gibt es Interessen, die auch in den Fünfjahresplänen veröffentlicht werden: Da steht zum Beispiel für 2016-2020, dass China eigene technologische Innovationen hervorbringen will, von „Made in China“ zu „Created in China“. Und natürlich gibt es auch von der chinesischen Partei langfristige Ziele, die mit Blickrichtung auf 2049, auf einhundert Jahre Volksrepublik China formuliert und vorgegeben werden. Nur sind diese Visionen, im westlichen Verständnis zumindest, relativ vage. Ein gutes Beispiel dafür ist die neue Seidenstraße. Präsident Xi Jinping sprach seit 2013 davon. Was für uns zunächst romantisch klang, wurde kontinuierlich konkreter: Fast die Hälfte der chinesischen Investitionsgelder floss 2015 nach Südeuropa. In Griechenland, Italien, Portugal und Spanien haben sich chinesische Investoren stark im Transportsektor und in der Energiewirtschaft engagiert. In Serbien, Bosnien-Herzegowina und Rumänien wurden Flughäfen sowie Flug- und Bahnlinien ausgebaut und neue Freihandelszonen geschaffen. Und nun ist sie „plötzlich“ da, die neue Seidenstraße, und der eingangs genannte Hafen von Piräus gehört dazu ebenso wie die Bahnverbindung nach Duisburg. Es scheint, als hätte sich die neue Seidenstraße Schritt für Schritt konkretisiert, ohne dass es von Anfang an den einen, großen chinesischen Plan gegeben hätte. Die Vorstellung einer Detailplanung ist westliches Denken. Das gelang schon im Sozialismus nicht. Der chinesische Weg ist flexibel und passt sich den Möglichkeiten an‚ oft auch durch ‚Versuch und Irrtum‘. Mao Zedongs Nachfolger, der Reformer Deng Xiaoping, hat diesen Weg einmal so schön umschrieben: ‚Nach Steinen tastend den Fluss überqueren‘.

In Europa ist das anders …

Ja. Wir Europäer tasten uns nicht an das andere Flussufer. Wir planen eine perfekte Brücke, wollen eine genaue Vorstellung davon haben, wohin wir gehen und mit welchen Mitteln wir das vorgegebene Ziel erreichen können. China zäumt das Pferd andersherum auf: Man hat Visionen und Interessen, aber keinen konkreten Detailplan. Dieser entwickelt sich im Laufe der Realisierung. Man experimentiert, vorzugweise in der Südprovinz oder in Schanghai; wenn es dort läuft, wird es auf das ganze Land ausgeweitet. Bleibt der gewünschte Erfolg aus, geht’s zurück an den Start, zur Not auch mit Verboten. Der große Plan heißt Erfolg, oder wie Konfuzius sagte: „Lehre das Volk und mache es wohlhabend“. Dieses Ziel geht man in China pragmatisch an. So werden etwa chinesische Investitionen in Süd- und Osteuropa genehmigt, um beispielsweise die Überkapazitäten im Stahlsektor sinnvoll zu nutzen. Dann lässt man staatliche und private Investoren agieren, wartet ab, ob die Projekte gelingen, und feiert dann den gemeinsamen Erfolg.

Wobei es trotzdem den massiven Vorbehalt gibt, dass chinesische Unternehmen nicht als marktwirtschaftliche Akteure, sondern als verlängerter Arm des chinesischen Staates agieren.

Da schwingen die Unterschiede der Systeme mit. China versteht sich als sozialistische Marktwirtschaft. Das ist nach unserem Verständnis ein Unding, weil wir die beiden Begriffe als Gegensätze sehen. China aber folgt hier der marxistischen Dialektik – und verschmilzt die Gegensätze zur Synthese. Es propagiert den Sozialismus auf der politischen Seite und verknüpft diesen mit der Marktwirtschaft. Dadurch, dass Eigentümer und das Management reich werden können, geben sie ihren Firmen den notwendigen unternehmerischen Antrieb. Ich habe viel mit chinesischen Wirtschaftsleitern zu tun, und habe oft versucht, ähnlich wie Sie jetzt, diese Fragen pointiert zu stellen: „Welchen Plan verfolgt ihr?“ Die Antwort, die ich bekomme, lautet: „Es ist nicht so, dass wir euch etwas wegnehmen wollen, wir sind gerne hier in Europa, wir wollen das Geschäft gemeinsam weiterentwickeln.“

Aber die einzelnen Übernahmen fügen sich zu einem Gesamtbild, beispielsweise in der deutschen Automobilbranche: Wie Sie vor Kurzem in einem Vortrag an der FH Dornbirn sagten, haben Chinesen im Laufe kurzer Zeit viele Automobilzulieferer übernommen …

Darauf will ich ja aufmerksam machen! Wir müssen uns bewusst sein, was da abgeht; gerade in dieser Branche, in der sich Deutschland führend sieht: In der deutschen Automobilzulieferbranche ist China als ganz wichtiger Partner bereits mit im Boot. Dabei hat China inzwischen eine eigene starke Automobilbranche und könnte durch Investitionen in die Elektroautomobilbranche, unter anderem bei Rimac in Kroatien und Rumänien, bald an der Spitze stehen. Chinesische Hersteller gehen den internationalen Weg, wie unsere Branche zuvor nach China gegangen ist.

Von Zukunftsforscher John Naisbitt stammt das Zitat: „Forschung über China zu betreiben, ist eine spannende und nie enden wollende Aufgabe, da sich das Land mit beispielloser Geschwindigkeit verändert.“ Sie als China-Expertin dürften diese Erkenntnis wohl teilen …

Ja. Wobei sich Europa zu lange nur auf den europäischen Binnenmarkt und auf die Beziehungen mit den USA konzentriert und China lange Zeit unterschätzt hat. Wenn damals vom Reich der Mitte die Rede war, hieß es immer, die Chinesen würden noch Jahrzehnte brauchen, bis sie das technologische Leistungsniveau des Westens erreicht haben. Das hört man auch heute noch häufig. Doch was erleben wir? Huawei und ZTE sind starke Säulen der europäischen Kommunikationsindustrie und China entwickelte sich zur Wirtschaftsmacht Nummer zwei, wesentlich schneller, als alle geglaubt hatten. Dabei hatte China noch Anfang der 1960er-Jahre mit Hungersnöten zu kämpfen. Wie im Sozialismus üblich hat sich auch im Reich der Mitte keiner um das Geschäft gekümmert, solange es nicht sein eigenes war. So wurden die marktwirtschaftlichen Reformen eingeführt. Das war im Übrigen auch der Grund, warum ich Mitte der 1980er-Jahre von Japan- auf China-Forschung umgestiegen bin. Weil ich dabei sein wollte, wie sich dieses Riesenreich der Marktwirtschaft öffnet! Eine Systemtransformation in diesem Ausmaß, die im Übrigen ja noch vor dem Ende der Sowjetunion erfolgte, war volkswirtschaftlich, betriebswirtschaftlich und auch kulturell enorm spannend.

Wann begann diese Transformation?

China fing 1979 erstmals formell an, mit marktwirtschaftlichen Modellen zu experimentieren. Sonderwirtschaftszonen wurden eingerichtet, hauptsächlich in den Hafenstädten; da hat man in dem seit 1949 abgeschotteten Land erstmals ein bisschen Freihandel zugelassen. Davor hatte es das nicht gegeben, nur eine Partnerschaft mit der Sowjetunion, die in die Brüche gegangen war. Der Handel mit dem Westen beschränkte sich auf Umweg-Geschäfte über Handelshäuser in Hongkong. Mit den Sonderwirtschaftszonen wurde das Schritt für Schritt geändert, das Land ganz vorsichtig geöffnet.

Die ersten damals zugelassenen Firmen durften nicht mehr als acht Mitarbeiter haben, damit sich nur ja kein „Staat im Staate“ bilden konnte. Erst, als man registrierte, welch gewaltige Dynamik sich auf einmal entfaltete, wurde ausgeweitet; es wurde immer mehr zugelassen, bis dann letztlich nicht mehr nur Bauern und Arbeiter, sondern erstmals auch Unternehmer in die kommunistische Partei aufgenommen wurden. Mit der Ankündigung des Beitritts zur Welthandelsorganisation wurde China Ende der 1990er-Jahre zum weltweiten Investitionsmagneten, 2001 folgten der Beitritt und damit der Zugang zu den Weltmärkten. Und im selben Jahr nahm mit der „Schwärmt aus“-Strategie die Internationalisierung der chinesischen Firmen ihren Anfang …

… in deren Rahmen China zum global bedeutenden Investor wurde.

Ja, und das geschah innerhalb des chinesischen Selbstverständnisses. Im 18. und 19. Jahrhundert war China im Weltvergleich ein hoch entwickeltes Land. Es gibt diesen berühmten Bericht, wonach der chinesische Kaiser Qianlong 1793 eine Handelsdelegation des britischen Königreichs abgewiesen hatte, weil China sehr reich war und „keinerlei Dinge aus dem Ausland benötigte“. Das hat sich seither geändert. Doch China ist immer noch stolz auf seine 5000-jährige Geschichte, die eine hoch entwickelte Zivilisation hervorbrachte, eine Seiden-, Gusseisen- und Porzellanindustrie und Innovationen wie Kompass, Papiergeld und eine ausgeklügelte Wasserwirtschaft. Heute sieht man sich auf gutem Wege, die damalige technologische und wirtschaftliche Stärke wiederzugewinnen – möglichst auf friedliche Weise durch Wirtschaftskooperationen.

Welches Fazit ließe sich denn ziehen?

Ich will darauf aufmerksam machen, was die Entwicklung Chinas für unsere Industrien bedeutet. Wir sollten in Europa darauf schauen, dass wir innovativ bleiben, um die Zukunft erfolgreich mitgestalten zu können. Und deswegen müssen wir frühzeitig erkennen, welche technologischen Felder in Europa besetzt werden und welche wir weiter entwickeln wollen. Wir müssen in Zukunft auch stärker verhandeln, da brauchen wir die EU als Gemeinschaft, auch die USA, und darauf drängen, dass die Volksrepublik China ihren Markt stärker öffnet. Was wir mit Fug und Recht kritisieren können, ist, dass der Marktzugang dort für uns nicht so frei ist wie umgekehrt für chinesische Firmen im Westen. Aber: China ist ein starker Partner und wir sollten seine Interessen und Perspektiven verstehen, um unserem Platz darin zu behaupten. Ich habe meinen Vortrag an der FH Dornbirn damals unter den Titel gestellt: ‚Der chinesische Drache als Investor: Glücksbringer oder Gefahr für den Technologie-Vorsprung?‘ Der Titel war da ganz bewusst gewählt. Denn der Drache ist in China kein böses Tier. Der Drache ist dort ein Glücksbringer. Nur im Westen gilt der Drache als gefährlich. Es liegt an uns, so zu verhandeln, dass der Drache auch für uns zum Glücksbringer wird.
 
Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.