Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Der Vorarlberger Arbeitsmarkt und seine zwei Welten

Oktober 2014

Der Vorarlberger Arbeitsmarkt hat seine Widersprüche. Einer Rekordbeschäftigung steht eine wachsende Zahl an Arbeitslosen gegenüber. Nachfrage- und Angebotsprofile unterscheiden sich immer deutlicher. Lehrlingsausbildung wird immer noch wichtiger – doch die Zahl der Jugendlichen nahm in den vergangenen zehn Jahren stark ab.

Ende September gab es in Vorarlberg 155.000 unselbstständig Beschäftigte, gleichzeitig waren 9400 Personen als arbeitslos vorgemerkt und weitere 2412 in Schulungen untergebracht, 452 mehr als im September 2013. Der Beschäftigungsgrad steigt – und gleichzeitig auch die Arbeitslosigkeit. Es ist unter anderem diese Diskrepanz, die den Vorarlberger Arbeitsmarkt auszeichnet. Die Arbeitslosigkeit steigt, obwohl in unserem Bundesland Jahr für Jahr etwa 2000 neue Beschäftigungsverhältnisse entstehen und beim AMS derzeit, quer durch alle Branchen, 1924 offene Stellen gemeldet sind. Doch der steigende Bedarf der Vorarlberger Wirtschaft an Fachkräften kann mit den als arbeitslos vorgemerkten Personen nicht gedeckt werden – zu stark differieren geforderte und angebotene Qualifikationen. Es gibt, heißt es, „einen Mismatch zwischen Nachfrage- und Angebotsprofil“. Und dieses Delta, dieser Unterschied zwischen zwei verschiedenen Welten, wird immer größer.

Top-Firmen, Top-Kräfte

Welt eins: Vorarlbergs Wirtschaft ist geprägt von Top-Unternehmen, von Weltmarktführern in ihrem jeweiligen Bereich, und von innovativen Klein- und Mittelbetrieben, deren Erfolg zum maßgeblichen Teil auch auf ihre topqualifizierten Mitarbeiter zurückzuführen ist.  Diese Betriebe liefern sich, zum Vorteil von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, einen intensiven Wettbewerb um die besten und kreativsten Köpfe. Und die Nachfrage nach Fachkräften ist ungebrochen hoch. Auch Blum müsse suchen, sagt Personalchef Johannes Berger, „mit den unterschiedlichsten Instrumenten“. Selbst für Unternehmen mit einem positiven Arbeitgeber-Image gebe es einen Facharbeitermangel in Vorarlberg – insbesondere bei Kunststofftechnikern, Werkzeugmachern und Mechanikern: „Diese Qualifikationen sind in Vorarlberg derzeit schwer zu finden.“

Lehrlinge als Kapital

Aktuell werden bei Blum 15 Facharbeiter, zwölf Absolventen berufsbildender höherer Schulen und sechs Kandi­daten mit akademischer Ausbildung gesucht. Doch in erster Linie sorgt man selbst für Nachwuchs – Blum bildet, Stand 1. September, 266 Lehrlinge aus.

Was Blum im Unterland ist, ist Liebherr im Oberland – der jeweils größte Lehrlingsausbilder der Region. Liebherr forciert das seit Langem. Für Geschäftsführer Manfred Brandl ist klar: „Ein Betrieb, der selbst keine Lehrlinge ausbildet, hat kein Recht, einen Mangel an guten Facharbeitern zu bejammern. Nur zu kritisieren und selbst nicht auszubilden, das ist zu wenig.“ Brandl spricht aus eigener Erfahrung, war selbst Lehrling und arbeitete sich bis zum Liebherr-Geschäftsführer der maritimen Sparte hoch, ist heute für die Koordination der Produktionswerke in Nenzing, Rostock, Sunderland und Killarney zuständig. Brandl sagt auch: „Wir sind ein Familienbetrieb, und Familienbetriebe haben von Natur aus ein höheres Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Region und der Gesellschaft. Das ist eine gute Vorarlberger Tradition.“ Der Erfolg bestätigt den Weg. Liebherr kann unter den Besten wählen. Und das hat laut Brandl folgenden Grund: „Das ist eine Frage des Images. Wir sorgen in Nenzing für ein gutes Betriebsklima, das wiederum am Arbeitsmarkt als exzellente Unternehmenskultur wahrgenommen wird. Und Betriebe mit einem guten Image ziehen gute Leute an. Betriebe mit einem schlechten Image eben andere.“

Ein Trend zur Schule?

Dennoch beobachtet Brandl die Entwicklung abseits des eigenen Unternehmens mit Sorge: „Die demografische Entwicklung einerseits und der Ausbildungstrend andererseits führen zwangsläufig zu zukünftigen Problemen am Arbeitsmarkt – vor allem was die Facharbeiter anbelangt.“ Die Vorarlberger Industrie tue viel, um diese Entwicklung zu entschärfen, immer wieder würden Projekte gestartet, um an bildungsresistente Jugendliche zu gelangen; auch werde viel unternommen, um mehr Mädchen für technische Berufe zu begeistern. Dennoch: „Wir werden in der Gesellschaft immer Menschen haben, die nicht so leistungsfähig sind. Auch für die brauchen wir Arbeit – und nicht nur für Wissenschaftler und Hightech-Mitarbeiter.“ In diesem Zusammenhang stellt es Brandls Meinung zufolge übrigens „langfristig ein Problem dar, dass bestimmte Kreise in der Gesellschaft den Akademiker-Anteil mit aller Gewalt verdoppeln wollen. Denn der Erfolg der heimischen Wirtschaft und der damit verbundene hohe Lebensstandard in unserem Land resultieren aus dem sehr gesunden Verhältnis von Facharbeitern zu Akademikern.“ Auch Blum-Personalchef Berger sieht „eine gesellschaftliche Strömung hin zu schulischer Ausbildung samt weitergehenden akademischen Qualifizierungen“. Wie ist das zu verstehen? „HTL-Absolventen haben eine hochqualifizierte Ausbildung, könnten sofort in den Arbeitsmarkt einsteigen, entscheiden sich vielfach aber für eine weitergehende universitäre Ausbildung.“

Sandra Ender-Lercher, Geschäftsführerin von Lercher Werkzeugbau mit Sitz in Klaus, sieht einen generellen Trend, sagt, dass sich ihrer Ansicht nach zu viele für die Schule und gegen die Lehre entscheiden würden: „Es ist ja an sich positiv, dass es diese schulischen Möglichkeiten gibt. Aber es ist auch insofern negativ, als Industrie und Gewerbe damit künftige Facharbeiter weggenommen werden. Und damit haben viele Unternehmen zu kämpfen.“ Folge, beispielsweise für das Unternehmen in Klaus: „Wir investieren sehr viel in die duale Ausbildung, fördern und fordern unsere Lehrlinge, müssen aber auch am Arbeitsmarkt Leute suchen. Und Techniker und Fachkräfte sind nur schwer zu bekommen.“ Der Beweis ihrer Aussage steht quasi auf der Homepage der Firma – acht neue Lehrlinge werden da vorgestellt, und gleichzeitig werden per Inserat Fachkräfte gesucht, etwa Kunststofftechniker, Werkzeugmechaniker oder CNC-Fräser.

Man setzt also auf eigene Lehrlinge, braucht daneben aber weiteres, ausgebildetes Personal. Und wird wo fündig? In verstärktem Maße auch im Ausland. Harald Dörler, Personalleiter bei Omicron electronics, sagt: „Das rasche Wachstum unseres Unternehmens war nur möglich durch die Rekrutierung ausländischer Mitarbeiter. Wir benötigen vor allem Elektrotechniker und Informatiker, die wir vielfach an ausländischen Universitäten rekrutieren.“ Und dazu geht Omicron mit verschiedenen Universitäten – München, Stuttgart, Karlsruhe, Wien, Graz – intensive Kooperationen ein und vergibt Forschungsaufträge.

Zuzug von außen

Omicron ist damit ein Beispiel eines Vorarlberger Unternehmens, das – im Wachstum befindlich – auf Zuzug von außen angewiesen ist, weil der Bedarf an Fachkräften im Land nicht zu decken ist. Und das ist das Problem von Welt zwei. Denn in der starken, innovativen Vorarlberger Wirtschaft, die sich dem Wettbewerb stellt – die Exportquote der Vorarlberger Unternehmen liegt bei stattlichen 60 Prozent –, braucht man Fach- und keine Hilfskräfte. Und der Bedarf an Fachkräften kann allein auf dem Vorarlberger Arbeitsmarkt nicht gesättigt werden – zu groß ist die Differenz zwischen Nachfrage- und Angebotsprofilen, zu groß der Unterschied zwischen denen, die bereit sind, sich zu bilden und weiterzubilden und sich dem Leistungsdruck einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft zu stellen, und jenen, die sich in dieses gleichermaßen fordernde und gebende System nicht integrieren lassen, mangels Qualifikation oder Willen. Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser spricht von der Schwierigkeit, „in Vorarlberg das Fachkräftepotenzial anbieten zu können, das benötigt wird – diejenigen, die arbeitslos sind, verfügen nicht über die notwendige Qualifikation, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird“.

Dieses Delta verschärft sich, kann auch seit Jahren nur noch durch Zuzug von außen geschlossen werden – zunächst maßgeblich von deutschen Arbeitskräften, mittlerweile aber auch von Arbeitskräften aus anderen Herkunftsländern. Auch das zeigt das Dilemma des Arbeitsmarkts: Jahr für Jahr entstehen rund 2000 neue Beschäftigungsverhältnisse. Doch diese Jobs werden zu drei Vierteln von Arbeitskräften aus den EU-Ländern besetzt und zu einem Viertel von Frauen, wobei in letzterem Segment vor allem atypische Beschäftigungsverhältnisse entstehen, Teilzeitarbeit vor allem. Die ständig neu entstehenden Jobs lösen also das Problem der einheimischen Arbeitslosen mitnichten. Doch Vorsicht vor Pauschalurteilen: Es ist nicht so, dass ausschließlich niedrigqualifizierte Ausländer niedrigqualifizierten Vorarlberger Arbeitslosen die Jobs wegnehmen. „Auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Wirtschaftskammer-Präsident Manfred Rein, „findet ein gewaltiger Wettbewerb statt.“ Das Abgeschottete, nur auf das Nationale Ausgerichtete gebe es schon längst nicht mehr: „Der Arbeitsmarkt ist offen, auch für ausländische Arbeitnehmer. Und die Willigen und Qualifizierten verdrängen die nicht so Willigen und die Schwachen.“ Die Zwiespältigkeit des Arbeitsmarkts, die Distanz zwischen den sehr gut und den gering Qualifizierten, nennt Blum-Personalchef Berger übrigens eine „gesamtgesellschaftliche Herausforderung“. Und das ist Welt zwei.

Die Arbeitslosen

Welt zwei: Vier Geschäftsstellen hat das AMS in Vorarlberg, jede wird täglich von durchschnittlich 50 Personen aufgesucht, die einen Job suchen und in aller Regel einen Antrag auf Arbeitslosengeld stellen. In Summe waren es 32.715 verschiedene Personen im Jahr 2013, ein gutes Fünftel aller unselbstständig Beschäftigten in Vorarlberg – eine stattliche Zahl. Rechnet man all jene ein, die zwei Mal oder öfter im Jahr arbeitslos werden, erhöht sich die Zahl der Fälle gar auf 40.268. Freilich sind die Gründe unterschiedlich. Es kommen Menschen vorbei, die selbst ihren Job gekündigt haben, die gekündigt wurden oder sich aus gesundheitlichen Gründen oder saisonbedingt um etwas Neues umschauen müssen. Aber in Summe ist das eine enorme Zahl an arbeitsuchenden Menschen. „Der Vorarlberger Arbeitsmarkt“, sagt AMS-Landesgeschäftsführer Anton Strini, „ist sehr flexibel.“ Als arbeitslos erfasst oder in Schulungen untergebracht sind laut aktuellster Statistik von Ende September 2014 exakt 11.812 Personen.

Strini für Strategiewechsel

Könnte der AMS-Chef ohne Auflagen eine Maßnahme für den Vorarlberger Arbeitsmarkt setzen, würde er in der Facharbeiter-Debatte einen Strategiewechsel einleiten. Inwiefern? Derzeit sei die Strategie, denjenigen rasch zu vermitteln, der am Arbeitsmarkt unterzubringen ist, und erst bei nicht funktionierender Vermittlung auf Qualifizierung zu setzen „Das hat den Nachteil, dass die Menschen, die eigentlich qualifizierungsfähig wären und zu einem Facharbeiterabschluss gebracht werden könnten, sofort wieder vermittelt werden – und die anderen übrigbleiben.“ Doch die derzeit definierte Aufgabe des AMS sei es eben, sofort zu vermitteln und damit den Bezieherkreis von Arbeitslosengeld möglichst klein zu halten – „der Markt soll spielen, was er spielen kann“.

Lösungsansätze

Und in Zukunft? Seine Klientel, sagt Strini, wäre bei dem von ihm geforderten Strategiewechsel geeignet, den Facharbeitermangel in Vorarlberg zu beheben. Jährlich verzeichnet das AMS rund 3000 Zugänge in die Arbeitslosigkeit von Menschen mit migrantischem Hintergrund, die zwischen 20 und 30 Jahre alt sind und zumindest einen Pflichtschulabschluss haben. Diese je 1500 Männer und Frauen könnte man im Prinzip zu einem Facharbeiterabschluss führen, zumindest einen Gutteil von ihnen – wenn man dafür sorge, dass diese Menschen für die zweijährige Dauer eines Facharbeiterabschlusses auch finanziell über die Runden kommen. „Aus diesem Potenzial könnten pro Jahre mehrere hundert Fachkräfte zusätzlich für den Arbeitsmarkt ausgebildet werden“, prognostiziert Strini, „und das wäre ja nicht uninteressant.“ Systematisch solle man also künftig „die Besten, die arbeitslos werden, höher qualifizieren – und nicht die Schlechteren“.

22,2 Millionen Euro

Land Vorarlberg und AMS haben heuer zusammen 22,2 Millionen Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Verfügung gestellt, 1,9 Millionen Euro mehr als noch 2013. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik wolle man damit betreiben, heißt es, indem etwa Hilfen zum Wiedereinstieg verbessert und Qualifizierungsmaßnahmen zielgerichtet ausgebaut werden sollen. Kann man denn jemanden qualifizieren, der sich nicht qualifizieren lassen kann oder nicht qualifizieren lassen will? „Das ist eine Hypothese, die ich so nicht teile“, sagt Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser, „es gibt natürlich Menschen, bei denen es Hemmnisse bei der Qualifizierung gibt. Aber ein gewisses Qualifikationsniveau kann man vielen Leuten vermitteln. Und ich glaube, dass viele Menschen, die derzeit in der Arbeitslosenstatistik ausgewiesen werden, qualifikationsfähig sind.“ Auch deshalb werde großes Engagement in die Aus- und Weiterbildung gelegt und das Augenmerk darauf gerichtet, dass die Ausbildung treffsicher auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet wird. Apropos Bedürfnisse der Wirtschaft: Per 1. September sind 1279 Jugendliche in ihr Lehrverhältnis gestartet, allein 528 im Handwerk und Gewerbe und 132 im Handel. Die Hitliste der beliebtesten Lehrberufe führt dabei – zur Freude der Wirtschaft – mit 273 Lehrlingen der Lehrberuf Metalltechnik mit seinen Modulen Maschinenbautechnik, Stahlbautechnik, Werkzeugbautechnik und Zerspanungstechnik an.

Doch gibt es auch hier Trends, die bei weiterer Fortschreibung alarmieren: Im Jahr 2011 erreichten die Lehrlingszahlen in Vorarlberg ihren Höchststand, seither sind vor allem im ersten Lehrjahr deutliche Rückgänge zu verzeichnen. Mit 2066 lag die Zahl der Vorarlberger Lehrlinge im ersten Lehrjahr markant unter dem Wert von 2009 (2545). Rückfragen bei Egon Rücker, Leiter der Vorarlberger Landesstelle für Statistik, zeigen die Dramatik: Per 30. Juni 2014 gab es in Vorarlberg 60.536 unter 15-Jährige, 2004 waren zum selben Zeitpunkt noch 68.014 unter 15-Jährige gezählt worden. Und da ist die Rechnung eine simple: Zwar entscheidet sich nach wie vor jeder zweite Jugendliche im Land für eine Lehre und damit für die duale Ausbildung; je weniger Jugendliche es gibt, desto weniger Lehrlinge gibt es aber auch – und desto weniger Fachkräfte können ausgebildet werden. Und dieser Umstand wird den Facharbeitermangel in den kommenden Jahren weiter verschärfen.

Wie also kann ein Fazit lauten? Präsident Rein sagt: „Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg, von der Bildung hängt alles ab.“ Jedes weitere Abwarten in diesem Bereich habe nur eines zur Folge: „Dass Menschen nicht die Chancen bekommen, die ihnen zustehen.“ Ansonsten werden Angebot und Nachfrage wohl immer weiter auseinanderklaffen, und das AMS wird bleiben, was es heute ist: eine Reparatureinrichtung für Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit.

Mitarbeit: Herbert Motter, Peter Freiberger, Sabine Barbisch

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