Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Die Erkenntnis unserer Verletzlichkeit“

September 2021

Wirtschaftsvordenker und Trendforscher Franz Kühmayer sagt mit Blick auf die Pandemie, man dürfe das Geschehene nicht abhaken, sondern müsse es vielmehr als Sprungbrett verstehen. Ein Gespräch mit dem studierten Physiker über die irrige Annahme, früher sei alles besser gewesen – und die Möglichkeit, Zukunft zu gestalten.

Herr Kühmayer, hat die Pandemie gezeigt, wie sehr in dieser komplexen Welt das eine vom anderen abhängt?
Ja. Wir haben in dieser Krise gemerkt, dass alles mit allem zusammenhängt und dass die Verantwortung des Einzelnen über seinen persönlichen Einflusskreis hinausreicht. Der Mensch ist nicht nur seines eigenen, sondern auch des anderen Glückes Schmied. Und wenn man ein bisschen tiefer schürft, dann könnte man auch sagen, dass eine Krise stets auch so etwas ist wie ein Offenbarungseid – ein Offenbarungseid für unsere persönliche Verfasstheit, aber auch für die Verfasstheit von Wirtschaft und Gesellschaft. Doch Krisen sind nicht nur eine Dekonstruktion des Alltags, sie sind vor allem auch ein Anfang. Und deshalb müssen wir jetzt dringend anfangen, in Zusammenhängen zu denken.

Wie ist das zu verstehen?
Unser Denken gleicht einem Pop-Up-Wissen, der Mensch erkennt nur, was unmittelbar vor ihm passiert, sieht aber die dahinterliegenden Dynamiken immer schlechter. Wir leben im besten Zeitalter, das die Menschen jemals hatten und haben dennoch – geprägt durch die mediale Landschaft und geprägt durch unser eigenes Kommunikationsverhalten – den Eindruck, dass eine Katastrophe der nächsten folgt. Es ist diese Schieflage, es ist dieser Gegensatz zwischen katastrophalen Einzel-Ereignissen und der guten systemischen Entwicklung der Welt, den wir erkennen müssen. Und wir können, wir müssen aus dieser Krise lernen, dass wir nicht alles isoliert für uns selbst lösen können, sondern eben systemischer zu denken haben.

Die Menschen dürften in dieser Krise auch gemerkt haben, dass Wirtschaft und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden sind …
Ich glaube schon. Denn Krisen sind nicht nur ein Charaktertest, sondern auch so etwas wie ein Beziehungsgestalter. Und in den Beziehungen liegt die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Wir Menschen haben uns nicht nur gemerkt, wie, sondern vor allem auch mit wem wir durch diese Krise gegangen sind. Wer war da für uns? Wer hat uns unterstützt, wer hat uns gestärkt? Das gilt für den einzelnen Menschen, das gilt für Organisationen, aber auch für Unternehmen. Gerade dort hat man ja sehr wohl registriert, welche Geschäftspartner und Kunden auch in dieser Krise präsent waren, obwohl sie aus vertraglichen Gründen in einer derartigen Ausnahmesituation auch die Beziehungen hätten lösen können. Dieser Beziehungsgestalter ist damit auch ein Zukunftsgestalter. Wir gehen aus dieser Krise mit dem Gefühl heraus, ganz genau zu wissen, auf wen wir uns verlassen können – und mit wem wir deshalb in Zukunft auch weiter zusammenarbeiten wollen.

Was wird denn darüber hinaus bleiben von dieser Krise?
In einer ersten Näherung bleibt die Erkenntnis unserer Verletzlichkeit. Es gibt im Wienerischen den Spruch ‚Es sind schon Hausherren‘ gestorben, damit ist gemeint, niemand kann so erfolgreich sein, als dass er nicht doch in eine große Krise hineinrutschen könnte. Die Disruption dieser Krise hat gezeigt, dass auch ein starker Wirtschaftsstandort und ein absolut prosperierendes Land sehr hart getroffen werden können. Aber wenn wir diesen Monaten etwas Positives abgewinnen wollen, dann ist es gerade dieses Wissen um die eigene Verletzlichkeit. Dieses größere Wissen kann uns fitter machen. Es ist wie beim Bergsteigen. Wenn man da merkt, dass man einen steilen Weg nicht gehen kann, sich seiner Schwäche also bewusst ist, kann man trainieren, um den Berg im nächsten Jahr bezwingen zu können. 

Es ist also das Wissen um die eigenen Schwächen – und die eigenen Stärken, das über den weiteren Weg entscheidet.
Ja, absolut. So wie diese Pandemie unsere Schwächen offenbart hat – wir hatten zuvor ja über einen Offenbarungseid gesprochen – so hat sie auch unsere Stärken offenbart. Wenn man es salopp formulieren mag, könnte man sagen, dass diese Pandemie auch der größte ungeplante Pilotversuch zum Thema ‚Veränderung der Arbeitswelt‘ war, den die Welt jemals gesehen hat. Und das von einem Tag auf den anderen. Von einem Tag auf den anderen mussten beispielsweise Büroarbeit, Handel und Gastronomie anders funktionieren; ohne dass die Menschen ins Büro oder ins Gasthaus kommen konnten, ohne dass Geschäfte geöffnet waren. Wir haben in dieser Zeit auch Stärke, Flexibilität und Innovationsgeist gezeigt. Es hat nicht alles funktioniert, natürlich nicht; aber es hat erstaunlich viel funktioniert. Auch das muss uns bewusst sein.

War die Pandemie ein Innovations­beschleuniger?
Ja, das war sie. Beispielsweise hatten wir binnen weniger Monate Impfstoffe, die Geschwindigkeit, mit der hier Wissenschaft und Forschung reagiert haben, war atemberaubend. Ich streu aber ein bisschen Salz in diese grundsätzlich frohe Botschaft des Innovationsbeschleunigers hinein, weil sich – wenn ich auf digitales Arbeiten schaue – doch an der einen oder anderen Stelle das Gefühl durchgesetzt hat: ‚Jetzt wissen wir, was Digitalisierung bedeutet, weil wir gelernt haben mit Zoom und Teams und anderen Tools zu arbeiten.‘ Und nichts könnte weiter von der Wirklichkeit und der Wahrheit entfernt sein. Wir stehen bei der Digitalisierung am Anfang, nicht am Ende des Prozesses. Was gut funktioniert hat, soll uns Kraft geben, allerdings dürfen wir in unseren Bemühungen jetzt nicht nachlassen. Auf keinen Fall! Wenn diese unmittelbare Krise vorbei sein wird, werden wir Gelegenheit haben, die Zukunft mit einem breiteren Pinsel zu zeichnen. Wir dürfen das Geschehe nicht abhaken, wir müssen es als Sprungbrett verstehen.

Sie warnten in einem „Thema Vorarlberg“-Essay vor der ‚undifferenzierten Sehnsucht an frühere Zeiten‘ …
Nicht nur wir Trendforscher beschäftigen uns mit der Zukunft, es beschäftigen sich alle Menschen mit der Zukunft. Der Mensch ist ein prognostisches Wesen, unser Gehirn hat einen Vorwärtssinn. Allerdings versucht unser Gehirn, diesen Vorwärtssinn mit der Vergangenheit zu verankern, der Mensch stellt sich stets die Frage: ‚Wir war denn das früher?‘ Doch dieses Zurückschauen, das ist das Vertrackte, verklärt. Über alle Jahrhunderte hinweg hatten die Menschen das Gefühl, dass sich die Welt über alle Maßen beschleunigt. In dieser Schleife sieht sich die Menschheit quasi gefangen. Wir haben den Eindruck, früher war die Welt einfacher, langsamer, weniger komplex. 

 

Heute ist doch ein fantas­tischer Tag, die Zukunft zu gestalten!

Und dabei?
War früher nicht alles besser. Früher war einfach nur früher. Die Welt war nicht besser, ganz im Gegenteil. Die Daten sprechen da eine eindeutige Sprache. Wenn also jemand sagt, lasst uns dort weitermachen, wo wir im März 2020 in vollem Lauf unterbrochen worden sind, dann sage ich: Nein! Die Welt hat sich verändert, daher müssen sich auch der Mensch und die Organisation verändern. Wir haben Neues auszuprobieren, wir haben zu experimentieren, wir haben zu lernen. Wir brauchen keine Verwalter des Geschehenen, sondern Gestalter des Neuen. Jetzt ist die Zeit, ein neues Spiel zu spielen!

Sie haben in einem Essay geschrieben, dass wir neue Antworten auf die Balance zwischen Ökonomie und Ökologie brauchen.
In der Gesellschaft existiert ein allgemeines Störgefühl über die Art und Weise, wie die Welt wirtschaftet. Die Menschen wissen, dass das auf Dauer so nicht weitergehen kann, immer mehr erahnen ein letztes Aufbäumen des bestehenden Systems. Doch welche Pfade führen aus diesem Störgefühl heraus? Wer heute nach einem radikalen, einem totalen Systemwandel ruft, dem antworte ich: Zuerst müssen wir doch klären, was das Ziel ist, erst dann können wir fragen, wie wir an dieses Ziel gelangen. Wir brauchen also ein lohnendes Zielbild, auf das es sich hinzuarbeiten lohnt. Wir brauchen eine Aufbruchserzählung, die uns Verlustängste nimmt; eine große Erzählung der Zukunft, die nicht den drohenden Verzicht, sondern den zu erwartenden Gewinn propagiert. Die Menschen sehnen sich geradezu nach einer derartigen Aufbruchserzählung. Die aber darf nicht von oben nach unten verordnet werden, zumal ich keinen Wunsch nach Heilpredigern habe; vielmehr muss eine solche Aufbruchserzählung in einem großen partizipativen Prozess entstehen. 

 

Wir brauchen eine Aufbruchserzählung, die uns Verlust­ängste nimmt.

Apropos. Der Diskurs Vorarlberg diskutiert unter breiter Einbindung Themen wie Regionalität, Nachhaltigkeit, Bildung, Digitalisierung. Sind das relevante Zukunftsthemen?
Das sind absolut entscheidende Zukunftsthemen. Wir sprechen in der Trendforschung da von „Glokalisierung“, also dem Verschmelzen von Lokalen und Globalen. Wo verorten wir uns im regionalen und im globalen Kontext? Nachhaltigkeit ist wiederum nicht nur als Bio- und Ökogedanke zu sehen, sondern auch als Frage, was wir als Menschen und als Unternehmen hinterlassen wollen. An welche unserer Geschichten und an welche unsere Taten soll man sich erinnern können? Und die Sprengkraft der Digitalisierung ist schlichtweg unerschöpflich. Denn sie führt uns nicht nur zu technologischen, sondern auch zu sehr menschlichen, philosophischen Fragen.

Was der Mensch ist und was er sein soll?
Tatsächlich glaube ich, dass uns Technologie – so seltsam das auch klingen mag – näher zu unserer Menschlichkeit bringt und damit auch zum Nachdenken darüber, was uns Menschen ausmacht. Wenn Roboter Fertigungsarbeiten übernehmen, wenn Algorithmen Wissensarbeiten übernehmen können, wofür braucht es dann noch den Menschen? Welche Entscheidungen sollen Maschinen übernehmen können? Welche Entscheidungen dürfen Maschinen nicht übernehmen? Der Mensch kann den Wettlauf mit der Maschine nicht gewinnen. Er muss an sich halten. Soll heißen: Wenn die Maschine immer besser wird, muss auch der Mensch immer besser werden.

Sie sagten einmal, wir hätten es gegenwärtig mit einer Inflation der Daten, aber einer Deflation der Taten zu tun…
Wir haben in vielen Bereichen kein großes Erkenntnisproblem, manchmal sogar gar kein Erkenntnisproblem, aber es fehlt der Schritt zur Tat. Und dieser Schritt zur Tat fehlt meiner Einschätzung nach maßgeblich aus zwei Gründen. Zum einen sagen sich viele Menschen: Es wird morgen bessere Antworten geben, deswegen tue ich heute nichts, ich warte ab. Das aber ist ein wenig unternehmerischer Aspekt. Unternehmer sein heißt, etwas zu unternehmen, Risiko zu nehmen, Sachen auszuprobieren. Und noch nie war es so leicht, Dinge auszuprobieren. Die heutige Technologie versetzt uns in die Lage, mit überschaubarem Aufwand und zu überschaubaren Kosten Dinge zu machen, die bis vor kurzem noch undenkbar waren. 

Und zum anderen?
Und zum anderen führt die Informati­ons­überflutung der Gegenwart zu einer regelrechten Schockstarre. Wir werden jeden Tag mit derart vielen Möglichkeiten und Optionen bombardiert, dass wir aus Angst, die falsche Wahl zu treffen, entweder gar nichts tun – oder das Vergangene einfach fortschreiben. Doch das nimmt uns das Lenkrad aus der Hand und setzt uns auf den Beifahrersitz. Man ist nicht mehr Pilot des eigenen Lebens, sondern nur noch Passagier und sitzt dabei noch nicht einmal weit vorne. Daher: Mehr Mut! Wir haben die Gelegenheit, beherzt Chancen zu ergreifen, die sich wirtschaftlich, gesellschaftlich, technologisch bieten; wer diese Chancen nicht wahrnimmt, der verspielt jetzt seine Zukunft. 

Sie nennen sich selbst – im Unterschied zu einem Optimisten und einem Pessimisten - einen Possibilisten …
Ich werde als Trendforscher oft gefragt, ob die Zukunft gut oder schlecht wird, ob ich also Optimist oder Pessimist bin. Und ich antworte dann stets: Ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin Possibilist. Ich glaube an Möglichkeiten. Die Zukunft existiert noch nicht. Sie entsteht nicht von alleine, sie wird von uns gemacht, und das an jedem einzelnen Tag. Ich kann mir sagen: Heute ist doch ein fantastischer Tag, die Zukunft zu gestalten! Heute probiere ich etwas Neues aus! Machen wir den ersten Schritt in die richtige Richtung. Why not? Ich wüsste nicht, was uns aufhalten sollte.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person

Franz Kühmayer ist einer der einflussreichs- ten europäischen Vorden- ker der neuen Arbeitswelt, arbeitet als Trendforscher am Zukunftsinstitut in Frankfurt und ist Unternehmensberater und Autor. Der Österreicher, der Physik und Informatik studiert und eine Vielzahl weiterer Ausbildungen ab- solviert hat, lebt in Wien.
  

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