Die Musterbrecher

Stefan Kaduk und Dirk Osmetz

Die Musterbrecher – Reden vor Kommunizieren

März 2023

Leitbilder und Mission Statements sind voll von Worten, gegen die niemand etwas haben kann. Was lässt sich schon gegen „Nachhaltig­keit“ einwenden? Oder gegen „Wertschätzung“? Das Dilemma: Diese Begriffe bedeuten alles und zugleich nichts. Sie sind Plastikworte, leblos und leer. Statt einfallslose Kommunikationsoffensiven mit ihnen zu starten, plädieren die Musterbrecher für Begriffsarbeit. Und somit fürs echte Miteinander-Reden.

Wir beginnen Workshops oft mit der – zugegeben – rhetorischen Frage, ob jemand im Raum etwas gegen Innovation oder Transparenz hat. Natürlich hat sich noch nie jemand gemeldet. Was wir damit demonstrieren wollen: Nicht nur die obligatorischen Führungs- und sonstigen Leitbilder, sondern die gesamte Unternehmenssprache ist voll von inflationär gebrauchten Begriffen und Wendungen, die zwar nicht falsch, aber eigentümlich leer sind. Diese Begriffe nennen wir in Anlehnung an den Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen „Plastikwörter“. In der gleichnamigen Publikation, bereits vor Jahrzehnten veröffentlicht, wird diese Wortgattung näher beschrieben: Es handelt sich bei Plastikwörtern um „Alltagsdietriche“, die – automatisch mit einem Pluszeichen versehen – inhaltlich der Schlüssel zu allem und daher mehrheitsfähig sind. Ihre Herkunft ist meist die Welt der Wissenschaft, und stets schwingt ein Imperativ mit. Insbesondere durch den letzten Aspekt wird deutlich, wie sehr die Organisationswelt von Plastikwörtern durchdrungen ist. Schließlich lässt sich jeder Schlüsselbegriff aus einem Leitbild sofort als eine entsprechende Forderung formulieren: „Wir benötigen mehr Wertschätzung, Transparenz, Offenheit ...Wir müssen endlich eine Vertrauens-, Fehler- oder sonstige Kultur leben ...“ Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Sprache als Alltagsdietrich
Vor einigen Jahren ließen wir im Rahmen eines Seminars von unseren Master-Studierenden eine sprachliche Analyse von Leitbildern der DAX30-Unternehmen vornehmen. Das Ergebnis: 27 Unternehmen trafen eine Aussage hinsichtlich der Ausrichtung des Unternehmens und der Entwicklung des Geschäftswerts. Und stets fand sich eine Variation des Ausdrucks „nachhaltige Steigerung des Unternehmenswerts“.
Die Suche nach wiederkehrenden Schlagworten gestaltete sich erwartungsgemäß einfach. Auf den ersten drei Plätzen fanden sich: Innovation, Nachhaltigkeit und Wachstum. Plastikwörter eben. Sie haben den Vorteil, dass man gar nicht mehr so genau hinhören muss, weil sie im Business-Letramix in jeder beliebigen Anein­anderreihung irgendwie Sinn ergeben. Natürlich lässt sich einwenden, dass Leitbilder nie den Ist-Zustand, sondern immer ein gewünschtes Zukunftsbild beschreiben. Sie sind also eine Art regulative Idee, weshalb ihre Austauschbarkeit nicht allzu sehr überraschen darf. Zudem verfügen wir nun einmal nur über die Sprache, die wir haben. Insofern müssen wir schon „Vertrauen“ sagen, wenn wir Vertrauen meinen. 
Auch wenn Plastikwörter mit Worthülsen und Stereotypen verwandt sind und deren Häufung – auch und gerade in Unternehmen – durchaus einen Aufreger wert ist, geht es uns nicht um Sprachkritik. Vielmehr wollen wir das Augenmerk darauf richten, dass Plastikwörter (wieder) mit Leben gefüllt werden. Damit dies gelingt, ist im wahrsten Sinne des Wortes Begriffsarbeit nötig. 

Mit dem zweiten Blick 
Eindrucksvoll erlebt haben wir dies bei der Begleitung eines Trägers sozialer und karitativer Einrichtungen. Dort lieferte eine Befragung der Mitarbeitenden nach typischem Muster (standardisierter Fragebogen, quantitative Auswertung etc.) ein Ergebnis, das branchenunabhängig bei sämtlichen uns bekannten Erhebungen dieser Machart zu finden ist: Neben dem Wunsch nach mehr Wertschätzung und klareren Führungsentscheidungen wurden eine bessere Versorgung mit Informationen und eine Erhöhung der Transparenz angemahnt. Üblicherweise führen diese erwartbaren Diagnosen zu ebenso erwartbaren Reaktionen. Wenn etwa mehr Transparenz gefordert wird, dauert es meist nicht lange, bis das Intranet mit noch mehr Informationen gefüttert wird. Und oft erfolgt dann der Hinweis der Geschäftsleitung auf die Holschuld der Mitarbeitenden, ganz nach dem Motto „Da steht’s doch – Ihr müsst es nur lesen.“
Im vorliegenden Fall lief es anders. Man wollte den Dingen auf den Grund gehen und gewissermaßen hinter die Bühne der Plastikwörter blicken. Wir führten daher narrative Interviews durch und stellten bei der Auswertung fest, dass die Forderung von Transparenz nicht sonderlich viel mit Informationsdurst zu tun hatte.
Es zeigte sich nämlich, dass es den Mitarbeitenden um eine wertschätzende Resonanz auf ihr Tun ging. Sie wollten nicht noch mehr Daten und Fakten, sondern hatten das Bedürfnis, in ihrer täglichen Arbeit wieder von den Führungskräften gesehen zu werden. „Denen da oben“ sollte endlich wieder transparent sein, was an der Basis geleistet wurde. Diese Interpretation von Transparenz hat zweifellos mehr mit Beziehungsgestaltung zu tun als mit reinen Informationen. Allzu oft aber scheint niemand – ähnlich wie bei Hans Christian Andersens Märchen – wirklich laut herausbrüllen zu wollen: „Die Informationen sind nackt!“
Dieses und andere Beispiele aus den vergangenen Jahren machten uns deutlich, dass es dringend angesagt ist, Begriffsarbeit zu leisten. Damit meinen wir keine philosophische Übung, sondern die Notwendigkeit, sich auch im rasenden Organisationsalltag der Substanz hinter den konsenstauglichen Schlagwörtern bewusst zu werden. Es dürfte sich lohnen, fallweise auf diejenigen Diagnose- und Erhebungsinstrumente zu verzichten, deren Ergebnisse quantitativ-statistisch aufbereitet und dann notgedrungen zu Plastikwörtern verdichtet werden. Stattdessen empfehlen sich narrative Methoden, die zweifellos aufwendiger und nicht so einfach „abzubilden“ sind, aber zu deutlich gehaltvolleren Resultaten führen.

Mehr desselben
Die Forderung nach Begriffsarbeit hat auch mit der Beobachtung zu tun, dass es in Organisationen an Gelegenheiten zu wirklichem Austausch zwischen Menschen mangelt. Auf den ersten Blick scheint freilich genau das Gegenteil der Fall zu sein. Steht nicht Kommunikation überall ganz oben auf der Agenda? Werden nicht zahllose Versuche unternommen, Projektfortschritte und laufende Initiativen darzustellen und den Mitarbeitenden die Ziele von Veränderungsvorhaben zu erklären, ihnen zu sagen, wohin die Reise geht? All das wird mit großer Professionalität getan, doch das Problem dürfte anders gelagert sein. Denn in Organisationen wird häufig „Miteinander reden“ mit „Kommunizieren“ verwechselt. 

Grenzenlos und ungeregelt
In komplexen Situationen darf Kommunikation – hier im neutralen Sinne ohne Wertung – nicht selektiv sein. Sie muss spontane Verständigungsprozesse zulassen und sogar provozieren. Deshalb finden wir richtig, was der Geschäftsführer eines Mittelständlers zu uns sagte: „Es muss möglich sein, dass Menschen während der Arbeitszeit über alles sprechen. Bei uns im Unternehmen ist es gestattet, dass Menschen miteinander reden. Selbst wenn 90 Prozent der Zeit, die sie miteinander reden, nur Tratsch wäre, und in den anderen zehn Prozent das gesprochen wird, was sonst nie gesprochen würde, wäre das gut.“ Unternehmen sollten nicht versuchen, zu steuern, was gesprochen wird, sondern stattdessen das Miteinander-Reden in jeder Hinsicht zulassen. Schließlich beginnen Menschen nicht deshalb siloübergreifend zusammen zu arbeiten, nur weil sie gemäß den Führungsprinzipien zu direkter Kommunikation aufgefordert werden. Es sollte also immer genau überprüft werden, an welchen Stellen die Maschinerie der Kommunikation bewusst nicht in Gang gesetzt wird. So haben wir die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, einer Initiative keinen spektakulären Namen zu geben. Ein namenloses Projekt hat oft bessere Chancen auf Beachtung, wenn es denn lohnend ist, sich in ihm zu engagieren. Wenn es den Leuten nichts bringt, wird auch eine aggressive Projektwerbung kein Engagement nach sich ziehen. Auf Programme, die mit einem Akronym geschmeidig daherkommen sollen, kann man getrost verzichten – spätestens seit der Gag die Runde macht, dass „Team“ sowieso nur „Toll, ein anderer macht’s“ bedeutet. Auch bedruckte USB-Sticks, auf denen die neuen Kampagnenbilder nach dem Markenrelaunch enthalten sind, beeindrucken nicht. Menschen sind dieser Form visueller Frontalbeschallung überdrüssig. 

Echte Zusammenarbeit
Stattdessen geht es darum, eine Kunst neu zu erlernen, die aus unserer Sicht das entscheidende Schmiermittel für alles ist, was Organisationen weiterbringt. Es ist die Kunst, Dialoge zu führen. Oft verwechselt man Dialoge mit Debatten. In einer Debatte geht es darum, die Gesprächspartner zu „besiegen“ und ihre Argumente zu zerschlagen. Ein Dialog, also eine Unterredung, die den Wortfluss ermöglichen soll, ist die hohe Schule, sich durch ein Einlassen auf die Standpunkte des anderen einem tieferen Verständnis zu nähern. Wenn man sich typische Besprechungen in Unternehmen ansieht, haben diese so gut wie nie die Qualität von Dialogen. Zu oft versuchen die Teilnehmenden, ihre Sendeanteile zu maximieren, obwohl sie im Raum von einem Poster mit der goldenen Regel „Wir hören einander zu“ zum Innehalten ermahnt werden. Es hat Sinn, sich konsequent in die Zuhörerrolle zu bringen. So wie ein Vorstandsmitglied und Bereichsleiter einer Münchner Behörde, der bei der jährlichen Mitarbeiterveranstaltung sämtliche Führungsebenen ausschließt. Seit vier Jahren experimentiert er mit dem Format „Sachbearbeiter allein mit dem Chef“. Die Resonanz war zunächst verhalten, weil die Mitarbeitenden nicht so recht glaubten, dass der oberste Boss ihnen wahrhaftig zuhören und sich „ungeschützt“ ihren Anliegen stellen wollte. Im dritten Jahr hat sich das Dialogformat etabliert. Die Mitarbeitenden haben zu Recht das Gefühl, dass es an der Spitze jemanden gibt, mit dem sie sprechen können. Und die Unternehmenskommunikation war klug genug, daraus keine Instagram-Story zu machen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags »managerSeminare«, Bonn. Erstveröffent­lichung in »managerSeminare 259«, Oktober 2019.

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