Sabine Barbisch
Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Hand.Werk

Mai 2024

Das Land Vorarlberg und sein Handwerk: Schuhmacherin Christine Dünser und der „Holzphilosoph“ Markus Faißt sprechen über die Faszination ihres Handwerks, über die besonderen Eigenschaften der von ihnen verwendeten Materialien – und über das Wissen der Hände. Eine Ausstellung im Vorarlberg Museum sorgt derweil für Kritik.

Noch bis Anfang nächsten Jahres ist im Vorarlberg Museum eine Ausstellung mit dem Titel „Mythos Handwerk – zwischen Ideal und Alltag“ zu sehen. Die Schau, heißt es, richte sich an alle, die sich für das Handwerk interessieren oder einen der zahlreichen Berufe erlernen wollen, in der Ausstellung gehe es um Gefühle und Werte, die man gemeinhin mit dem Handwerk verbindet – Ehrlichkeit, Regionalität, Qualität. Doch was dort zu sehen ist, das ärgert die Sparte Gewerbe und Handwerk der Wirtschaftskammer Vorarlberg. Zwar sind einige der ausgestellten Gegenstände durchaus ansehnlich. Auch ist eine Handvoll heimischer Exponate zu sehen, etwa der einst durchaus bekannte und heute wieder neu produzierte „Bregenzer Stuhl“. Aber mit Vorarlbergs traditionellem, auch zeitgenössischem Handwerk hat die in Frankfurt konzipierte Wanderausstellung kaum etwas zu tun: Regional ist nur wenig etwas. Einige der Produkte sind gar industriell gefertigt. Und letztlich hat die Ausstellung wesentlich mehr mit künstlerischem Aktionismus denn mit Handwerk zu tun, wie es aus der Sparte empört heißt. Die auch eines moniert: Dass die „in Vorarlberg zweifellos vorhandene lokale Expertise“ erst gar nicht beachtet worden ist, und man stattdessen auf Fachleute aus Dresden und aus Frankfurt gesetzt hatte. In einem Brief, den die Sparte an das Museum schickte, heißt es daher mit deutlich sarkastischem Unterton: „Nichtsdestotrotz möchten wir unsere aufrichtige Hoffnung ausdrücken, dass in Zukunft vielleicht eine Brücke geschlagen werden kann zwischen den traditionellen Handwerkskünsten unserer Region und den hehren Hallen des Landesmuseums.“

Nicht nur ein Mythos
Spartenobmann Bernhard Feigl illustriert seinen Unmut anhand zweier Beispiele. So wird in dieser gemeinsamen Ausstellung dreier Regionen etwa jener Bereich, in dem Vorarlberg europaweit am stärksten ist – das Holzhandwerk – mit dem alten Foto einer aufgelassenen Werkstatt in Dornbirn illustriert. In der Ausstellung wird auch eine Tracht aus dem Raum Dresden gezeigt, „die Ähnlichkeiten zur Bregenzerwälder Juppe aufweist“. Feigls Kritik: „Dabei wird mit einem Augenzwinkern die Nicht-Einzigartigkeit der Juppe vorgeführt, anstatt die große Kultur, Tradition und das handwerkliche Können bei ihrer Herstellung – das ist ja Inhalt eines eigenen Museums im Land – aufzuzeigen.“ 
Erwartet habe er sich, sagt Feigl, „eine wissenschaftliche und vor allem auch eine viel regionalere Aufarbeitung dieses Themas“. Auch, um dem aktuellen Stellenwert des Handwerks in Vorarlberg gerecht zu werden, „und nicht nur den Mythos zu bedienen“.
Welche Bedeutung Gewerbe und Handwerk in Vorarlberg haben, lässt sich allein schon aus folgenden Daten ablesen: 13.200 Betriebe in dieser äußerst vielschichtigen Branche beschäftigen in Summe knapp 34.300 Arbeitnehmer, und damit mehr als Industrie oder Handel. Und knapp 960 Lehrbetriebe bildeten im Vorjahr 2974 Lehrlinge aus, ebenfalls mehr als die Industrie oder der Handel. Wobei die Lehrberufe sehr viele sind, sie reichen – nur um Beispiele zu nennen – vom Glaser bis zum Tischler, vom Metalltechniker zum Orgelbauer, vom Kunststofftechniker bis zum Steinmetz.

Das Wissen der Hände
Handwerk weist in unserem Land in sehr vielen Fällen eine äußerst hohe Qualität auf. Für das Bestehen und Entstehen dieses Qualitätsbewusstseins finden sich auch historische Erklärungen: Während in anderen Regionen etwa Industrien dominierten, hatte das Handwerk im Land stets einen hohen Stellenwert und hatte es beispielsweise auch viele Bauern gegeben, die im Nebenerwerb handwerklich tätig waren. Die Menschen, Handwerker im Haupt- und im Nebenberuf, gaben ihr Wissen von Generation zu Generation weiter, dieses besondere Wissen – das Wissen der Hände. Feigl sagt, dass dieser Ausdruck vom „Wissen der Hände“ die Art, wie Handwerk funktioniere, bestens beschreibe: „Zuschauen, Nachmachen, Wiederholen, Verbessern, das macht Handwerk aus.“

Materialverständnis
Wobei sich dieses Wissen der Hände nicht nur auf das handwerkliche Geschick, sondern auch auf den Umgang mit den jeweils verwendeten Materialien bezieht; und laut Feigl auch in einem besonderen Materialverständnis mündet. Sprich: Im Wissen um die Eigenschaften und Vorteile des jeweils verwendeten Materials. Ein konkretes Beispiel? Das Holzhandwerk ist laut dem Spartenobmann auch deswegen von so hoher Qualität, weil in Vorarlberg mangels anderer Rohstoffe in den Talschaften seit jeher mit Holz gearbeitet werde: „Und deswegen hat man im Umgang mit diesem Material ganz besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt.“ 

„Meisterarbeit ist nicht laut“
„Handwerk ist für mich etwas Bindendes, Forderndes, Attraktives, das mich anzieht und hält“, das sagt Markus Faißt, der die handwerkliche Grundgrammatik von seinem Vater erlernt hat, die Handwerkstradition im Bregenzerwald und in der Familie reichen weit zurück. In seiner Holzwerkstatt in Hittisau werden schöne, praktische und gesunde Möbel aus Bregenzerwälder Weißtanne, Buche, Bergahorn oder auch mal Eiche angefertigt. Der Meister seines Faches ist tief überzeugt, „dass das Handwerk für den Menschen absolut relevant ist“. Das habe er selbst erfahren und er erlebe es mit all den Menschen, die er ausbilden und beschäftigen darf, mit Gästen, mit Schülern in der Phase der Berufsorientierung. „Meine zweite große Überzeugung gilt dem Ergebnis, dem Produkt, das am Ende herauskommt: Wenn das gutes Handwerk ist, lobt das Werk den Meister. Daran richte ich mich aus. Das nährt und stiftet in der Region eine auratische Qualität, die Gültigkeit hat und fasziniert.“
Diese Werke seien aber meist anonym: „Das ist der Unterschied zur Kunst, wenn sich nach einer Generation die Frage stellt, wer das Handwerksstück gefertigt hat, ist das mit Namen im Regelfall nicht mehr zuordenbar. Der Meister ist anonym, der Künstler sichtbar.“ Beim Handwerk ist es die Arbeit, die überzeugt: „Meisterarbeit ist nicht laut, sie ist funktional in der Gebräuchlichkeit und überzeugt mit Schönheit.“ 

Die Schlüsselkomponente
Faißt sagt auch: „Handwerk, das Werk durch die Hand, das macht uns zu Menschen: Es ist entwicklungsgeschichtlich darstellbar. Über unsere zehn Finger sind wir geschickt, die Schlüsselkomponente stellt der Daumen als Gegenspieler zu allen anderen Fingern dar.“ Anatomisch besteht die menschliche Hand nämlich aus 27 Knochen, 33 Muskeln und 22 Achsen, an denen sie beweglich ist. „Das Hirn-Hand-Spiel macht uns zu Menschen, dadurch sind wir fähig zu schreiben, als Künstler einen Pinsel zu halten oder ein Instrument zu spielen“, führt Markus Faißt aus.   
Der Meister seines Fachs zitiert in diesem Kontext den Philosophen Immanuel Kant mit dem Satz „die Hand ist der äußere Teil des menschlichen Gehirns“. Über die Hand ein Geschick zur Meisterschaft zu bringen, deutet er als „Menschwerdung in großer, reifer Form: Ich glaube an das Wissen der Hände, an ein Wechselspiel zwischen Hand und Hirn wie bei Kant. Ich möchte aber den Geist und die Kultur als weitere Pole ergänzen.“ 

Der Duft des Holzes
In der Holzwerkstatt von Markus Faißt in Hittisau wird ökologisch gearbeitet, es gibt keine künstlichen Gerüche im Haus, keine störenden Faktoren wie Kleber oder Kunststoffe, vielmehr wird man vom Duft der verschiedenen Hölzer umgeben: „Die Zirbe ist das massivste Holz im Geruch und auch Fichtenholz riecht man lang und deutlich, auch die gerbstoffhaltigen Noten der Eiche kommen immer wieder hervor“, erklärt der Meistertischler aus dem Bregenzerwald. Kurz: „Holz ist ein Glücksstoff, auch vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitssensibilität, die die Welt so dringend braucht. Und Holz ist ein Sympathieträger: ökologisch bestens bilanziert, hautsympathisch, nie kalt, für Menschen ein fast archaischer Stoff – er gilt als gesund, kraftvoll und vital.“ 
 
Gedanken sichtbar machen
Christine Dünser hat sich für ihre Werkstatt in der Dornbirner Widagasse, am ehemaligen Produktionsstandort für Strickwaren von Philipp Mäser, etwas Spezielles ausgedacht: „Nach langem Überlegen, wie ich den Eingangsbereich gestalten könnte, wurde mir klar, der Raum sollte ein Versprechen sein für das, was in der Werkstatt entsteht.“ Die Lösung der Schuhmacherin? Lederwände. „Es riecht nach Leder – vielleicht mit einem Hauch Kaffee – aber noch ohne die Taschen oder Schuhe in der Werkstatt zu sehen, ist es ein richtiges Ankommen für die Besucher und Besucherinnen. Und nicht selten wird durch den Geruch des feinen Leders die Erinnerung an den eigenen Opa oder Onkel geweckt, der Schuhmacher war.“ 
Die Schuhmacherin ist seit ihrem Schuh- und Accessoire-Design-Studium in Florenz und durch die Arbeit mit einem apulischen Schuhmacher vom Thema fasziniert: „Wir hatten Werkstattstunden in einem alten Schloss, aber weil die Starkstrom-Installation so lange dauerte, hat er uns die ursprünglichen Methoden gelernt. Ich glaube, niemand war dabei so fasziniert wie ich.“ Die junge Frau aus Vorarlberg war wie gebannt von der Möglichkeit, einen Entwurf selbst umzusetzen, eine Idee in Form von Taschen oder Schuhen nicht nur greifbar, sondern auch tragbar zu machen. „Mit den Händen zu arbeiten und am Ende vom Tag ein Ergebnis zu haben, einen Gedanken sichtbar zu machen, das erfüllt mich seitdem, es macht mich glücklich.“

Produkt und Wert
Nachdem Christine Dünser ein Praktikum bei Salvatore Ferragamo im Designbüro für Damenschuhe und in einer Werkstatt in Deutschland absolviert hatte, kam sie zurück nach Vorarlberg. „Kurt Winkler hatte eine offene Werkstatttür für mich, wir haben getüftelt und experimentiert und mit der Zeit sind Maßschuhe entstanden.“ 2012 machte sie sich selbstständig, bis heute ist ihr Firmenname Programm: Christine Dünser – Schuhe und Taschen nach Maß. „Der Name steht dafür, dass ich alles selbst mache, ich stehe im Laden, ich garantiere mit meinem Namen für das Produkt und seinen Wert.“   
Für diese einzigartigen Produkte arbeitet sie mit Werkzeug, das es seit 100 Jahren gibt: „Ich habe es aus alten Werkstätten übernommen, es ist also seit drei oder vier Generationen in Gebrauch. Im Grunde brauche ich so wenig, um ein Paar Schuhe anzufertigen – ich arbeite sehr traditionell, fast wie in früheren Zeiten; das einzige ist eine Näh- und Schleifmaschine, der Rest entsteht mit zwei Handvoll Werkzeugen, die auf dem Tisch liegen.“

Mit allen Sinnen
Liegt in dieser Einfachheit die Faszination für ihren Beruf begründet? „Ich bin mit allen Sinnen bei der Arbeit: Ich sehe, greife, spüre die Beschaffenheit des Leders. Ich nehme Gerüche war, etwa geschmolzenes Pech, Spachtelmaße, den extremen Kleber, den man im ganzen Haus riecht, das geschliffene Gummi. Ich höre die Geräuschkulisse, wenn wir hämmern, nähen oder die Trockenbürste über einen Schuh poliert.“ Nach all den Jahren in ihrem Handwerk habe sie gewisse Routinen entwickelt: „Und an guten Tagen, da läuft alles schnell, und manchmal muss ich etwas genauer machen – das empfinde ich als echte und ehrliche Arbeit.
Allein das Angreifen ihrer Materialien empfindet Christine Dünser als eine Form des Sehens: „Erfahrene Hände lernen dazu, sie spüren viel. Ohne darüber nachzudenken, streife ich immer über das Leder, bevor ich es verarbeite, und entscheide, ob es das passende Material ist.“ Das bringt uns zum anfänglichen Begriff des „Wissens der Hände“: Gibt es für die Handwerkerin so etwas? „Es ist interessant zuzusehen, wie die Hände einfach tun, was der Kopf denkt. Bei meinem Lehrling habe ich beobachtet, wie lange geübt wurde, bis es irgendwann wie von selbst ging. Die Hände haben gelernt, selbst zu denken – oder einfach zu machen. Der schönste Moment in der Werkstatt ist für mich, wenn meine Hände einfach machen.“ 

Spürbar, unmittelbar
Arbeitsforscher Hans Rusinek sieht im Handwerk „die Möglichkeit, mit eigenen Händen etwas zu schaffen, was einen selbst überdauern wird.“ Handeln, sagt Rusinek, komme von Händen. Dieses Handeln aber sei in unserer digitalen Arbeitswelt in der Krise, digital Geschaffenes lande letztlich im digitalen „Nirgendwo“ – wohingegen man mit dem in Beziehung trete, was man wirklich mit seinen eigenen Händen erschaffe. Rusinek sagt auch: „Handwerk kann das Gefühl von spürbarem und unmittelbarem Fortschritt in einer Art geben, wie es andere Formen der Arbeit niemals können.“ 

„Am Ende vom Tag ein Ergebnis zu haben, einen Gedanken sichtbar zu machen, das erfüllt mich.“

Christine Dünser Schuhmacherin

„Wenn es gutes Handwerk ist, lobt das Werk den Meister.“

Markus Faißt Meistertischler

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