Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Hoch hinaus – Vorarlberg, ein fruchtbarer Boden für Weltmarktführer

März 2020

Weltmarktführer aus Vorarlberg tragen in der breiten Öffentlichkeit kaum so geläufige Namen wie Microsoft, Google oder Amazon. Oder Sony. Oder Airbus. Auch nicht Red Bull oder Swarovski. Aber genau wie für diese liegen ihre Märkte in Sydney und in Moskau, in Peking, Vancouver, in Sao Paulo und in La Paz; natürlich auch in Deutschland oder in der Schweiz. Fast ausnahmslos findet man ihre Produkte weniger im Schaufenster oder in der Fernsehreklame. Aber in der Fachwelt sind ihre Qualitäten und die Zusammenarbeit mit ihnen sehr geschätzt, oft unumgänglich.

Die Mehrheit dieser Vorarlberger Unternehmen wird dabei den „Hidden Champions“ zugerechnet, gemäß der vom deutschen Experten Hermann Simon 1990 geschaffenen Definition. Laut Simon sind „Hidden Champions“ in der Öffentlichkeit zwar kaum bekannt, da sie meist inhabergeführt, nicht börsennotiert sind und oft einen Nischenmarkt bedienen. Und dennoch sind sie in ihrer Branche die Nummer 1, 2 oder 3 auf dem Weltmarkt oder die Nummer 1 auf ihrem Heimatkontinent. „Es ist erstaunlich, wie viele Vorarlberger Unternehmen in ihrem Bereich tatsächlich Weltmarktführer sind“, sagt Jimmy Heinzl, der Geschäftsführer der Wirtschaftsstandortsgesellschaft. Und legt nach: „Das ist eine Besonderheit, die bei weitem nicht jede Region in demselben Maß aufweisen kann.“

Vorarlbergs besondere Rolle

In der Tat. Laut Simon gibt es im deutschsprachigen Raum zwar mehr Hidden Champions „als im Rest der Welt zusammen“, Vorarlberg ist aber selbst da noch eine Ausnahme, zumindest in Österreich. Wie Georg Jungwirth, Professor an der Fachhochschule der Wirtschaft in Graz, erklärt, „hat Vorarlberg, nicht in absoluten Zahlen, aber gemessen an der Einwohnerzahl, österreichweit die meisten Hidden Champions.“ 16 derartige Unternehmen in Vorarlberg sind in Jungwirths Datenbank aktuell erfasst und weitere fünf Welt- und Europamarktführer gibt es, die so umsatzstark sind, dass sie gemäß wissenschaftlicher Definition nicht mehr als Hidden Champions gelten. 
Warum aber gibt es gerade im deutschsprachigen Raum mehr Hidden Champions als im Rest der Welt? Simon bietet Erklärungsansätze. So gebe es in unseren Breiten traditionelle handwerkliche Kompetenzen, die bis in die Gegenwart wirken, hätten die Regionen bereits frühzeitig Handel über die Grenzen betrieben und dabei entsprechende Fähigkeiten erworben, auch bestimme interne Konkurrenz die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes entscheidend mit. Eine starke Produktionsbasis, herausragende Innovationskraft und die duale Ausbildung sind weitere Gemeinsamkeiten in der Region – und damit auch weitere, mögliche Erklärungsansätze. Und schließlich liefern erfolgreiche Unternehmen in der Nachbarschaft anderen den Anreiz, selbst ein Champion zu werden: „Es scheint, dass allein schon die räumliche und soziale Nähe zu erfolgreichen Unternehmern Anreizwirkung hat.“

Weiterentwicklung

Schon lange konzentrieren sich diese Unternehmen nicht mehr auf die große textile Tradition Vorarlbergs. Doch wird heute „textile“ Technologie als Erbe dieser Zeit auch in gänzlich anderen Verwendungen als für Bekleidung weiterentwickelt. Oft geht es um Spezialitäten, die in hochwertige Endprodukte eingebaut werden, seltener aber doch auch um besonders anspruchsvolle Konsumgüter. Enorm rasch wurden die grenzenlos vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung ausgelotet, besonders in der Entwicklung von Software und deren Einsatz in der Organisation von Unternehmen. Die Leistungen der Vorarlberger Baukunst sind eine besonders bemerkenswerte Form von Software-Export bis Peking, Vietnam und Istanbul.

Die Sache mit der Innovation

Wirtschaftslandesrat Marco Tittler hatte erst dieser Tage die Firma Getzner Werkstoffe in Bürs besucht, den führenden Spezialisten für Schwingungs- und Erschütterungsschutz bei Bahn, Bau oder Industrie. Und das Unternehmen dabei gelobt, „als herausragendes Beispiel für die heimische Innovationskraft“. Die Aussendung zum Besuch trug den Titel: „Daheim in der Welt, angesiedelt in Bürs.“ Keiner dieser Weltmarktführer kann es sich in einer Zeit tiefer Umbrüche und Erschütterungen leisten, sich auf bisherigen Erfolgen oder auf alteingeführter Provenienz auszuruhen. Alle müssen jederzeit Innovationen auf den Markt bringen. 

Eine gute Strategie

Wobei Innovation verschiedene Ausprägungen hat, sie kann disruptiv sein oder inkrementell. Während im Rahmen der disruptiven Innovation neue Produkte, neue Dienstleistungen oder neue Prozesse entwickelt werden, handelt es sich bei einer inkrementellen Innovation in erster Linie um die evolutionäre Weiterentwicklung von einem Produkt oder einer Dienstleistung. „Etwas schon Bestehendes wird schrittweise verbessert oder angepasst, um neuen Kundennutzen zu erzielen, Kosten zu reduzieren, neue Märkte zu erschließen oder um auf externe Veränderungen wie neue Gesetze reagieren zu können“, heißt es dazu in einem deutschen Fachblatt. Für Vorarlberg ist diese Definition von großer Bedeutung. Denn in dieser inkrementellen Innovation sei Vorarlberg sehr gut, sagt Heinzl: „Vorarlbergs Unternehmer sind sehr stark, wenn es darum geht, zuzuhören, was am Markt gebraucht wird und das Gewünschte dann in Form neuer Produkte, Verfahren und Dienstleistungen relativ schnell und mit hoher Qualität umzusetzen.“ Er halte es auch für eine gute Strategie, bereits entwickelte Technologien für den eigenen Markterfolg möglichst schnell nutzbar zu machen. In einem Brand-eins-Artikel hieß es übrigens, dass es in Zeiten technischer Umbrüche oft auch jene Unternehmen erwische, die zu früh aufs neue Pferd setzen: „Es gewinnen diejenigen, die in der zweiten Welle aus den Fehlern der Vorreiter lernen.“

Forschung und Entwicklung

Georg Jungwirth sagt, dass Hidden Champions im österreichischen Durchschnitt rund zehn Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung investieren, „das wird auch in Vorarlberg nicht anders sein.“ Wäre das nicht der Fall, täten sich die Unternehmen sehr schwer, „diese überlegene Qualität der Produkte und Dienstleistungen anzubieten.“ Denn es gehe immer auch um Innovationen, es gehe darum, der Konkurrenz technologisch um ein, zwei Schritte voraus zu sein: „Weil es auf der Welt immer Firmen geben wird, die billiger produzieren können, als es diese Unternehmen in Österreich oder in Vorarlberg können, das ist den heimischen Betrieben auch bewusst.“
Der Konkurrenz technologisch um diese ein, zwei Schritte voraus zu sein, das sei der beste Schutz, „besser als jedes Patent“, habe ihm ein Unternehmer einmal gesagt, sagt Jungwirth auch. Seine Aussage: „Diese Unternehmen sind Qualitäts- und Technologieführer und nur deswegen können sie trotz des hohen österreichischen Lohnniveaus am Weltmarkt reüssieren.“ Vorarlbergs Unternehmen, groß wie klein, würden sich durch extrem hohe Qualität auszeichnen, sagt Landesrat Tittler.
Wer mit den Führungskräften dieser Unternehmen Perspektiven in einer Welt des Wandels erörtert, ihre Verantwortung für Unternehmen mit mehreren tausend Beschäftigten in allen Erdteilen spürt, dem fällt es schwer, sich vorzustellen, welch bitterarmes Ländle Vorarlberg (und angrenzende Gebiete) vor ein, zwei Jahrhunderten noch war. Mitte März zu Josephi mussten tausende halbwüchsige Kinder die Schule und die Familie verlassen und zu Fuß ins Schwabenland ziehen, weil die wenig ertragreiche elterliche Landwirtschaft sie kaum ernähren konnte. Heute zählt Vorarlberg innerhalb des wohlhabenden Europas zu den Regionen mit der höchsten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, abgesehen von den großen Metropolen.

Von immenser Bedeutung

Und dafür zeichnen auch diese Leitbetriebe verantwortlich. Erst vor kurzem hatte das Industriewissenschaftliche Institut (IWI) mit Sitz in Wien die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von internationalen Leitbetrieben für das jeweilige Bundesland erhoben, 16 Vorarlberger Unternehmen dieser Kategorie wurden berücksichtigt. Ergebnis: Werden die direkten, indirekten und induzierten Effekte dieser 16 Leitbetriebe in Vorarlberg miteingerechnet, dann zeigt sich, dass österreichweit – unter anderem – eine gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung von 5,4 Milliarden Euro generiert wird, damit über 64.400 Arbeitsplätze in Verbindung stehen und 1,48 Milliarden Euro an Investitionen ausgelöst werden. Die gesamte Wirtschaft und Bevölkerung profitiere also von den internationalen Leitbetrieben im Land, sagt der Präsident der IV-Vorarlberg, Martin Ohneberg: „Vorarlberg hat sich in Punkto Arbeitsplätze, Kaufkraft und Wohlstand so positiv entwickelt, weil Leitbetriebe und ihre Mitarbeiter als Kernsubstanz einer Volkswirtschaft in Vorarlberg investiert und sich so erfolgreich auf den internationalen Märkten behauptet haben.“
Diese Unternehmen sind ein entscheidender Faktor in der regionalen Wertschöpfungskette. Ihre Aktivitäten wirken sich auf nahezu alle Wirtschaftsbereiche in der Region – insbesondere durch Subaufträge an heimische Zulieferbetriebe im Gewerbe und Handwerk, Handel und Dienstleistungssektor – aus. „Der Erfolg der Großen ist ein Trigger für die Binnenwirtschaft – und deswegen von herausragender Bedeutung. Zudem schmücken sie Vorarlberg als Standort, ihr Know-how dokumentiert die Leistungsfähigkeit unseres Standortes“, sagt Jimmy Heinzl. Auch Jungwirth spricht von einer „immensen Bedeutung dieser Betriebe für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg“, er nennt sie auch einen „absoluten Stabilitätsfaktor für die Vorarlberger Wirtschaft.“ Gerade Weltmarktführer, sagt Jungwirth, seien in solchen Zeiten resilienter als jene, die beispielsweise nur Nummer fünf oder sechs am jeweiligen Markt seien: „Das hängt selbstredend auch mit den betriebswirtschaftlichen Kennzahlen zusammen, gerade die Eigenkapitalausstattung ist bei familiengeführten Unternehmen dieser Kategorie oftmals hervorragend.“
Das ist ein wesentlicher Punkt, das sagt auch Tittler: „Die eigentümergeführten Unternehmen mit ihrem klaren Bekenntnis zum Standort glauben an das eigene Produkt und haben den Willen zu dessen Weiterentwicklung; sie können auch deswegen in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten die richtigen Entscheidungen treffen.“

Ursachenforschung

Ist der Erfolg nun einer besonderen unternehmerischen Neigung der Einheimischen zu danken? Oder sind die Pionierleistungen einer Anzahl besonders unternehmerisch Gesinnter zu verdanken? Ja, dafür steht eine Anzahl bewundernswerter Persönlichkeiten. Oder vielleicht dem Einstrom von Ideen und Erfahrungen aus dem Ausland? Auch das, dafür gibt es Beispiele. Oder vielleicht dem Auffinden von Bodenschätzen, die das Land reich machten? Das viel weniger: Vorarlberg verfügt nicht über Rohstoffe für die Schwerindustrie, sieht man von den Energien ab, die die reichlich vorhandenen Wasserkräfte und die Elektrizität anbieten. 
Vorarlberg liegt eingebettet in eine mitteleuropäische Zone überdurchschnittlicher Produktivität. Sie erstreckt sich von Oberitalien und Südtirol über die Schweiz, Westösterreich, Süddeutschland und weiter den Rhein entlang. Überall dort stützte sich, ähnlich wie in Vorarlberg, der Aufstieg der wirtschaftlichen Leistung wenig auf Bodenschätze und Rohstoffe oder besondere klimatische Bedingungen, sondern auf innovative Weiterverarbeitung zu hochwertigen Produkten. 
Hermann Simon hatte „Brand eins“ in einem Interview einmal gesagt, dass man „Überlegenheit und Einzigartigkeit nur selbst schaffen und nicht nachkaufen“ könne und dass Spezialisierung der einzige Weg zur Weltklasse sei: „Man ist entweder Sprinter oder Marathonläufer, wer beide Disziplinen parallel betreibt, wird scheitern.“ Die betreffenden Unternehmen würden Produkte und Lösungen für Märkte anbieten, die häufig selbst sehr spezialisiert sind, die Fokussierung reduziere das Wettbewerbsrisiko: „Spezialisten konzentrieren sich voll auf ihren Markt, sind ständig auf der Suche nach besseren Problemlösungen. Und Spezialisten haben generell eine sehr hohe Kundennähe, die hilft ihnen, agil zu bleiben und auch mit schwierigen Situationen fertig zu werden.“

Der Ursprung

Unter den Weltmarktführern aus Vorarlberg findet man auffällig oft Unternehmen, die noch den Familiennamen des Begründers führen. Häufig sind sie aus kleinen handwerklichen Betrieben hervorgegangen. Der Stammvater oder die erste Generation nach ihm haben die Erfahrungen aufgegriffen und ausgebaut. Ob sie dabei lupenreine Familienbetriebe geblieben sind oder sich durch passende Partnerschaften und Fusionen verstärkt haben, schließt das nicht aus. Etliche davon sind zu weltweit tätigen Großunternehmen gewachsen und weisen einen Personalstand von mehreren tausend in aller Welt auf. 
Innerbetriebliche Organisationskultur, Effizienz von Entscheidungsfindung und Informationsverarbeitung und Offenheit gegenüber der Außenwelt sind wesentliche Voraussetzungen für das Betreten des Weltmarkts. Die Maxime des „lokal entscheiden, weltweit handeln“ findet gerade in Vorarlberg fruchtbaren Boden. Weltoffenheit einerseits, weitgehend übereinstimmende Werte und Ethik – Eigenverantwortung und Eigeninitiative, Verlässlichkeit und Gemeinsinn über soziale Schichten hinweg – erleichtern riskante Entscheidungen und vermeiden kulturelle Zusammenstöße. Weltmarktführer aus Vorarlberg können sich auf einen beinahe selbstverständlichen gesellschaftlichen Hintergrund verlassen.

Eine Frage der Mentalität

Das bezieht sich zwar nicht auf Unternehmerpersönlichkeiten, aber auf eine allgemein anerkannte und beachtete Mentalität, die nicht einzelne Personen auszeichnet, sondern die gesellschaftliche Umgebung. Wobei die Leistungen der Vorarlberger Weltmarktführer nicht geschmälert werden, wenn man sie auch auf ein gesellschaftliches Umfeld zurückführt, das befruchtend wirkt. 
Dabei kommt es entscheidend auf menschliche Qualitäten an: Fleiß, Aufgeschlossenheit für Neues, Langeweile wird als Dummheit angesehen, Streben nach Verbesserung, Bereitschaft zu Risiko, Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Ständige Evaluierung von Alternativen, Nutzung von Netzwerken und „Seitwärtsdenken“ statt Weiterfahren auf eingefahrenen Gleisen: klassische Voraussetzungen für unternehmerischen Erfolg. Gebhard Wölfle hat die vorherrschende Stimmung unübertrefflich in Worte gefasst: das Alte ehren, das Neue begrüßen. Nicht etwa: das Alte vergessen und jede neue Mode mitmachen. So wie es keine objektive statistische Erhebung über Weltmarktführer gibt, kann es auch keine für ein Phänomen geben, das mit „Mentalität“ umschrieben wird. Das bedeutet nicht, dass diese ohne Bedeutung ist. Wer als Vorarlberger in Wien lebt, könnte darüber Bücher schreiben.

 

 

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