Herbert Motter
Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Unter Strom

September 2022

Auf dem europäischen Strommarkt werden die Preise von Gaskraftwerken vorgegeben – der Strompreis hängt also vom Gaspreis ab. Angesichts der drastischen Preissprünge mehrt sich nun die Kritik am dahinterliegenden Merit-Order-Prinzip. Die Situation in Europa, die Situation in Vorarlberg: Eine Bestandsaufnahme.

Angesichts des drastischen Anstiegs der Energiepreise hatte sich die Bundesregierung am 28. August mit Vertretern der E-Wirtschaft beraten. Bundeskanzler Karl Nehammer hatte im Vorfeld gesagt: „Man muss den Strompreis vom Gaspreis entkoppeln.“ Nicht zulassen dürfe man, dass Putin jeden Tag über den europäischen Strompreis entscheide. Der Kanzler sprach sich für einen europäischen Strompreisdeckel aus: „Wir müssen diesen Irrsinn, der sich derzeit auf den Strommärkten abspielt, endlich stoppen. Und das geht nur durch eine europäische Lösung.“ Auch anderswo in Europa werden die Rufe nach einer Reform des Strommarktes lauter.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte Ende August, man arbeite an einer Notfallmaßnahme und an einer Strukturreform des Strommarktes: „Die in die Höhe schießenden Strompreise zeigen gerade aus verschiedenen Gründen die Grenzen unseres jetzigen Strommarktdesigns auf.“ 

Das europäische Netz
Werfen wir einen Blick auf das System? Das Europäische Verbundnetz ist ein Zusammenschluss der Übertragungsnetze, 41 Übertragungsnetzbetreiber aus 34 Staaten arbeiten in diesem Verbund zusammen. Hochspannungsleitungen transportieren Strom auch über weite Strecken, nationale Übertragungsnetzbetreiber halten das System rund um die Uhr im Gleichgewicht. Dieses gemeinsame Stromnetz in Europa wird mit einer Frequenz von 50 Hertz betrieben, es ist ein fragiles System. Da Strom nicht im Stromnetz gespeichert werden kann, muss immer genauso viel Strom erzeugt werden, wie auch gerade verbraucht wird. Braucht ein Land mehr Strom, als es selbst produziert, wird aus den Nachbarländern importiert. Die illwerke vkw sind in dieses europäische Verbundnetz eingebunden, Österreich kann sich nicht abkoppeln, Vorarlberg alleine schon gar nicht.

Der Strompreis hängt am Gaspreis
Der Strompreis am Großhandelsmarkt entsteht dabei durch ein Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Das Besondere an der Preissetzung im Strommarkt ist die sogenannte „Merit Order“. Damit ist ein Regelwerk gemeint, nach dem Strom an den internationalen Strombörsen gehandelt wird, und die Reihenfolge, in der dieser ins Stromnetz gespeist wird. 
Dabei werden die Kraftwerke aufsteigend nach ihren Grenzkosten sortiert – also den Kosten, die die Erzeugung einer weiteren Megawattstunde (MWh) beim jeweiligen Kraftwerk verursacht. Zuerst wird also Strom aus Kraftwerken mit den niedrigsten Grenzkosten ins Netz gespeist, zum Beispiel Windkraft. Dann werden nach und nach Kraftwerke mit höheren Grenzkosten zugeschaltet, bis die Nachfrage gedeckt ist. Die Grenzkosten des letzten Kraftwerks, das gerade noch zur Deckung der Stromnachfrage gebraucht wird, geben den Preis vor, den alle Kraftwerke für ihren Strom erhalten.
Da sich in den Grenzkosten insbesondere die Kosten für Brennstoffe wie Gas oder Kohle sowie Ausgaben für die CO2-Bepreisung niederschlagen, sind thermische Anlagen wie Gas- oder Kohlekraftwerke in vielen Stunden auch preissetzend. Der Strompreis geht also mit dem Gaspreis mit.
Da Erdgas aus Russland jahrelang billig war, hat das System in den vergangenen 20 Jahren gut funktioniert. Mit dem Verfahren wurde die Versorgungssicherheit gewährleistet, gleichzeitig kamen Haushalte wie Industrie durch Wettbewerb unter Kraftwerksbetreibern zu günstigem Strom. Allein in Österreich haben sich Verbraucher nach Berechnungen von E-Control und Energieagentur kumuliert rund 13 Milliarden Euro erspart. 

„Das passt nicht mehr“
Aber heute? Ist die Situation eine andere. Die drastisch gestiegenen Gaspreise haben den Strompreis massiv verteuert.Wilfried Hopfner, Präsident der Wirtschaftskammer Vorarlberg, sagt: „Mag das Merit-Order-Prinzip aufgrund der Vorteile für die Konsumenten – niedrigere Strompreise – sowie der damit verbundenen Anreize für eine verstärkte Investitionstätigkeit im Bereich der erneuerbaren Energien in der Vergangenheit durchaus seine Berechtigung gehabt haben, so zeigt sich für uns immer deutlicher, dass dieser Ansatz der Preisfindung im europäischen Strommarkt nicht mehr in das aktuelle wirtschaftliche Umfeld passt.“ Das zeigt ein Blick auf die Preisentwicklung.
2008 betrug der Großhandelspreis für eine Megawattstunde etwa 90 Euro, 2016 schrumpfte er auf 20 Euro. Zu dieser Zeit gingen viele alternative Anbieter auf den Markt. Anfang 2022 kostete eine MWh 100 Euro, aktuell liegt der Preis bei über 600 Euro. Für das 4. Quartal 2023 wird sogar von einem Preis nahe 1000 Euro (980) ausgegangen. 
Die Explosion der Energiekosten stellt zahlreiche Unternehmen vor existenzielle Probleme. In einem offenen Brief an Finanzminister Magnus Brunner schreibt Hopfner, es gelte, die maßgeblichen Vertreter auf europäischer Ebene zu sensibilisieren und auf eine Reform des Preisfindungssystems im europäischen Strommarkt zu drängen: „Wir sind überzeugt, dass damit das Übel der hohen Strompreise für private Haushalte und Unternehmen ‚an der Wurzel behandelt‘ werden könnte und sich so eine spürbare Verbesserung erreichen ließe.“
Abgesehen von einer deutlich geringeren Belastung durch die Stromkosten würden sich damit auch Diskussionen über staatliche Eingriffe in den Strommarkt oder eine Gewinnabschöpfungsabgabe weitgehend erübrigen; darüber hinaus würden sich so aber wohl auch die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen merklich reduzieren lassen.

Weitere Preistreiber
Doch ist der Gaspreis nicht der einzige Preistreiber. Die hohen Strompreise sind auch darauf zurückzuführen, dass derzeit mehr als die Hälfte der über 50 französischen Kernkraftwerke abgeschaltet sind. Zum einen liegt das an turnusmäßigen Wartungen, zum anderen aber auch an der extremen Trockenheit der vergangenen Monate: In Frankreich wurden Atomkraftwerke auch deswegen vom Netz genommen, weil schlichtweg das Wasser für die Kühlung fehlt. Das Land, das ansonsten 70 Prozent seines Strombedarfs mit Atomkraft deckt und zudem vor allem im Sommer Stromexporteur ist, muss jetzt Strom importieren, maßgeblich aus Deutschland. Und in Deutschland sind, ebenfalls bedingt durch die Trockenheit wiederum Kohlekraftwerke von der Versorgung mit Brennstoff abgeschnitten. Kohle wird dort mit Schiffen transportiert, die niedrigen Wasserstände sind damit ein Problem. 

Die Situation in Vorarlberg
Auch hier im Land hatte die Trockenheit zuletzt Auswirkungen auf die Stromproduktion. Einem ORF-Bericht zufolge haben die illwerke vkw im vergangenen halben Jahr 500 Millionen Kilowattstunden erzeugt, 100 Millionen Kilowattstunden weniger als üblicherweise. Die fehlende Menge, die der Versorgung von 28.000 Haushalten entspricht, muss auf dem internationalen Markt zugekauft werden. 
Österreich erzeugt aufgrund der geografischen Lage einen Großteil des Stroms durch Wasserkraftanlagen. Wasserkraft ist mit einem Anteil von zwei Dritteln die bedeutendste heimische Stromquelle. In Vorarlberg, erklärt Christian Vögel, ist der Erzeugungsanteil aus Wasserkraft absolut dominant, er liegt bei 95 Prozent. „Wir haben Photovoltaik, ein bisschen Biomasse, der Rest ist Wasserkraft“, sagt Vögel, Leiter des Fachbereichs Energie- und Klimaschutz beim Land Vorarlberg. 
Stromerzeugung im Land ist allerdings differenziert zu betrachten: Für Vorarlberg wird im Wesentlichen die Wasserkraft aus den Laufkraftwerken – etwa im Bregenzerwald, im Großwalsertal, in Klösterle – und aus vielen Kleinwasserkraftwerken herangezogen. Die ganze Kraftwerksgruppe Obere Ill Lünersee, die Pumpspeicherkraftwerke im Montafon haben eine andere Funktion; sie sind für den europäischen Markt der Spitzen- und Regelenergie zuständig. Sie tragen dazu bei, dass europaweit mehr Erneuerbare eingespeist werden können, dass das europäische Verbundnetz sicher bleibt und es zu keinem Blackout kommt. Sie wären nach eigenen Angaben physikalisch auch nur bedingt für einen regelmäßigen Verbrauch – zur Deckung der Grundlast – gebaut, sondern dazu, kurzfristige Schwankungen im Strommarkt auszugleichen.
Zur Sicherstellung der Versorgung müssen durch die illwerke vkw nach eigenen Angaben „größere Strommengen importiert und zugekauft werden. Vorarlberg hat nicht den Strom, um den Bedarf im Land über das gesamte Jahr decken zu können.“
 
Vorarlberg: Besser für Haushalte
Apropos Vorarlberg, wie stellt sich die Situation für Großkunden und Haushalte dar? Für Großkunden gilt laut illwerke vkw-Vorstandsmitglied Helmut Mennel: „Großkunden können die Beschaffungsstrategie mit Fixierungen der Preise für bis zu drei folgende Kalenderjahre selber wählen, manche waren da risikoreicher, manche nicht. Fakt ist, die Großhandelspreise sind enorm gestiegen, haben sich verzehnfacht. Wer den Bedarf nicht abgesichert hat und neu abschließen muss, wird mit höheren Energiekosten rechnen müssen.“
Die Situation für die Haushalte ist in Vor­arlberg im europäischen Vergleich dagegen bemerkenswert. So ist laut Mennel „der Gesamtstrompreis für private Haushalte im Jahr 2022 im Vergleich zu 2021 leicht gesunken, da gesetzliche Abgaben reduziert wurden. Ein durchschnittlicher Haushalt mit 3500 kWh Jahresverbrauch zahlt heuer knapp 30 Euro weniger als im Vorjahr.“ Mennel sagt auch: „Für die Haushalte wurde mit 1. Mai 2022 zuletzt der Strompreis erhöht. Bis Ende März 2023 ist dieser garantiert.“
In den „Salzburger Nachrichten“ stand in diesem Zusammenhang, dass sich Stromkunden in Vorarlberg und Tirol derzeit „glücklich schätzen“ könnten, weil illwerke vkw und Tiwag „nach wie vor regionale Tarife auf Vorkrisenniveau bieten“. Auch bei Gas zähle die vkw – neben der oberösterreichischen Energie AG – zu den österreichweit günstigsten Anbietern. 

Stromsparen
Derweil wird allerorts zum Stromsparen aufgerufen. illwerke vkw-Vorstandsmitglied Christof Germann schreibt in seinem Gastkommentar (in der Rubrik „Nachgedacht“, Seite 27): „Auf Ebene der Haushalte und Unternehmen besteht schließlich die Verantwortung, alle Spielräume auszuschöpfen, um Energie, wo immer dies sinnvoll möglich ist, einzusparen. Das Bewusstsein, dass Energie ein wertvolles Gut ist, muss die Grundlage für jede persönliche Entscheidung sein.“
Während man in Österreich – zumindest derzeit noch – auf Freiwilligkeit setzt, ist die Situation in Deutschland eine andere. Dort gelten, per Verordnung, seit dem 1. September zahlreiche Vorschriften zum Energiesparen, im privaten wie im öffentlichen Bereich. So dürfen – beispielsweise – private Pools nicht mehr mit Gas und Strom geheizt werden, in Arbeitsräumen in öffentlichen Gebäuden ist nur noch eine Raumtemperatur von höchstens 19 Grad gestattet. Regeln in Mietverträgen über eine bestimmte Mindesttemperatur werden vorübergehend ausgesetzt. Leuchtreklamen müssen von 22 Uhr bis 16 Uhr des Folgetages ausgeschaltet werden. Werden Geschäfte beheizt, dürfen sie ihre Ladentüren nicht mehr dauerhaft offenhalten. Detto wird die Beleuchtung von Gebäuden und Denkmälern aus rein ästhetischen oder repräsentativen Gründen ausgeschaltet. 
Auch in Feldkirch werden historische Gebäude, wie die Schattenburg oder das Landeskonservatorium, die Stadttürme oder die Stadttore, seit dem 1. August nicht mehr beleuchtet. Die Stadt Feldkirch, die mit dieser Aktion pro Jahr 14.000 Kilowattstunden spart, will damit laut Bürgermeister Wolfgang Matt „einen Beitrag zum Stromsparen leisten“ und in der Bevölkerung das Bewusstsein für Energiesparen stärken. „Es liegt an uns allen, den Energieverbrauch zu reduzieren und so einen Beitrag zu leisten, damit wir gut durch den nächsten Winter kommen“, sagt Vizebürgermeister Daniel Allgäuer. 

Wie schlimm kommt es? 
In der Schweiz hat die staatliche Regulierungsbehörde im Elektrizitätsbereich Anfang August die Bevölkerung gewarnt, man müsse „im Winter im schlimmsten Fall“ mit vorübergehenden Stromabschaltungen rechnen; man solle sich mit Kerzen eindecken, bei der entsprechenden Heizmöglichkeit im Haus auch mit genügend Brennholz. Er hoffe, dass es nicht zu einem Stromengpass komme, sagt Wolfgang Seidel vom Energieinstitut Vorarlberg: „Es wäre aber fahrlässig, sich nicht auf einen solchen Fall einzustellen.“ 
 
Und die Zukunft?
Doch gibt es auch Menschen, die mit Optimismus in die Energie-Zukunft schauen. Martina Prechtl-Grundnig, Geschäftsführerin des Dachverbands „Erneuerbare Energie Österreich“, hatte in der „Presse“ beispielsweise geschrieben: „Vielleicht werden zukünftige Historiker unser Jahrzehnt als Krisenzeit bezeichnen, vielleicht aber auch als die Zeit des großen Aufbruchs. So könnte in den Geschichtsbüchern der Zukunft zu lesen sein: „Im Jahre 2022 gelang bei der Energiewende der Durchbruch in der österreichischen Energiepolitik.“
Laut Christian Vögel war das Merit-Order-Prinzip je nach Sichtweise Vorteil und Nachteil zugleich. Bedingt durch günstigstes Erdgas aus Russland sei der Energiepreis jahrelang sehr niedrig gewesen, davon habe man profitiert: „Nicht profitiert hat dagegen der Klimaschutz, die niedrigen Energiepreise boten keinen Sparanreiz und haben zudem die Umstellung auf die Erneuerbaren erschwert.“ Für die Energieautonomie Vorarlberg ist die aktuelle Situation laut Vögel übrigens „zwiespältig“ zu sehen: „Die Situation ist ernst. Man weiß nicht, wie es mit den Gasflüssen aus Russland weitergeht. Werden die völlig gestoppt? Engpässe in der Versorgung will niemand! Im Ernstfall könnte der Energielenkungsfall eintreten.“ Man müsse sich auf alles vorbereiten. Dass in der Gesellschaft in Sachen Energie derzeit allerdings ein Bewusstseinswandel stattfinde, das wird sich laut Vögel langfristig bezahlt machen: „Und prinzipiell zeigt sich, wie wichtig die Energieautonomie in ihrem Grundsatzbeschluss war.“ Der da lautete: Bis 2050 in Energiefragen selbstbestimmt zu sein und vollständig auf Erneuerbare umzusteigen.

Strompreisbremse
Mit einer Strompreisbremse will die Bundesregierung Verbraucher vor den explodierenden Börsenpreisen schützen. Laut Wifo-Chef Gabriel Felbermayr gehe es darum, einen verbilligten Basisverbrauch in jedem Haushalt sicherzustellen – zu einem Strompreis wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die Preisbremse gilt nur für einen bestimmten Verbrauch. Das soll zum Energiesparen anregen, weil alles darüber hinaus dann nach dem teuren Marktpreis abgerechnet wird. Unternehmer und Betriebe drohen allerdings bei diesem Modell leer auszugehen, Details werden dieser Tage präsentiert. Derweil wurde unmittelbar vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe publik, dass Wien Energie vom Bund sechs Milliarden Euro benötigt, Gelder zur Besicherung von Lieferverträgen am Terminmarkt. Es sind herausfordernde Zeiten, in vielfacher Hinsicht.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.