David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Vergesst den „Kapitalismus“! Es geht um die soziale Marktwirtschaft

Juli 2023

Wenn man das menschliche Wohl betrachtet, ist die heutige Welt im Vergleich zu vergangenen Zeiten großartig. Ein Gedankenexperiment verdeutlicht dies: Stellen wir uns vor, wir könnten einen Zeitpunkt in der Geschichte wählen, zu dem wir leben wollen. Wir wissen jedoch nicht, welche Nationalität, welches Geschlecht, welchen sozialen Status, welches Einkommen oder welchen Glauben wir zum gewählten Zeitpunkt haben. Welchen Zeitpunkt würden wir wählen? Nach etwas Überlegung müssten wir wohl zugeben, dass der beste Zeitpunkt genau jetzt ist! 

Großartiges Leben im hier und jetzt
Dies mag zunächst überraschen, da nicht alle Bürger gleichermaßen von den Vorteilen des technologischen Fortschritts und der enormen wirtschaftlichen Entwicklung profitieren. Doch wer die reale heutige Welt betrachtet und sie mit der Vergangenheit vergleicht, erkennt, dass die Menschheit insgesamt noch nie gesünder, wohlhabender, besser gebildet und in vielerlei Hinsicht toleranter war als heute.
Angenommen, wir könnten unsere Wahl nicht nur auf eine bestimmte Lebenszeit, sondern auch auf einen bestimmten Lebensort einschränken: Wahrscheinlich würden wir ein Land mit demokratischen Strukturen und einer Art sozialen Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild wählen. Dabei ist es weniger entscheidend, ob das „Soziale“ etwas weniger Gewicht hat – wie es möglicherweise in den USA der Fall ist – oder ob es etwas stärker betont wird – wie es in Österreich der Fall sein mag. Beide Länder bieten ausgezeichnete Lebensbedingungen und sind zweifellos weitaus besser als autokratische Regime ohne Marktwirtschaft.

Fortschritt und Wachstum zentral
Technologischer Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum spielen eine zentrale Rolle bei der Verbesserung unserer Welt. Durch technologische Entwicklungen konnten Hunger, Seuchen und unkontrollierbare Naturkatastrophen, die in der Vergangenheit verheerend waren, teilweise gebannt und beherrschbar gemacht werden. Gleichzeitig sanken Kindersterblichkeitsraten weltweit massiv, die Landwirtschaft wurde revolutioniert, die Lebenserwartung stieg und der Menschheit wurde insgesamt ein besseres Leben geschenkt.
Trotzdem gibt es weltweit massive Probleme: Armut ist verbreitet, Hunger ist in einigen Ländern Realität, Menschen sterben oft viel früher als notwendig, Pandemien stellen weiterhin eine Bedrohung dar, und eine ungebremste Erderwärmung würde den Wohlstand in Zukunft beeinträchtigen, wenn keine globalen Anstrengungen unternommen werden, um die Erwärmung einzudämmen und sich an ein verändertes Klima anzupassen.
Dennoch dürfte das Leben für immer größere Teile der Menschheit bei weiterem technischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum in Zukunft noch besser werden. Die relevante Frage ist daher, wie es zu Fortschritt und Wirtschaftswachstum gekommen ist und wie man beide erhalten oder sogar ausbauen kann.

„Kapitalismus“ und Wohlfahrts­steigerungen?
Die Menschheit erlebte erhebliche Wohlfahrtssteigerungen seit Beginn der industriellen Revolution. Die Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist geprägt durch den verstärkten Einsatz von Kapital, beispielsweise in Form von Maschinen. Damit einher geht eine Art Wirtschaftssystem, das heute in öffentlichen Diskussionen häufig auf eine gewinnorientierte Nutzung von Privateigentum an Kapital reduziert wird und sodann als „Kapitalismus“ bezeichnet wird. Der Begriff „Kapitalismus“ ist mittlerweile ideologisch so stark aufgeladen, dass er für den gesellschaftlichen Diskurs kaum noch nützlich ist. Er könnte getrost vergessen oder vielleicht überwunden werden, genau wie der Kommunismus und der Sozialismus quasi überwunden wurden.

Worum geht es wirklich?
Statt Diskussionen über „Kapitalismus“ zu führen, sollten wir uns auf die positiven wirtschaftlichen und politischen Anreize konzentrieren, die unter anderem durch Offenheit und Wettbewerb in Wirtschaft und Politik entstehen. Wie in der Vergangenheit wird es auch in Zukunft darum gehen, insbesondere die Rahmenbedingungen richtig zu setzen, um eine möglichst breite, positive Entwicklung zu ermöglichen. Es geht dabei vor allem darum, wie drei große Ziele der meisten Bürger – gute materielle Lebensbedingungen, effektiver sozialer Ausgleich und der Schutz der Umwelt – bestmöglich realisiert und miteinander vereint werden können.
Hier kommt die soziale Marktwirtschaft ins Spiel. Mit ihr kann versucht werden, die inhärenten Konflikte zwischen den Zielen anzugehen. Denn soziale Sicherheit und der nachhaltige Erhalt der Umwelt sind zwar hehre Ziele, aber keineswegs kostenlos erreichbar. Die Kosten für diese beiden Ziele äußern sich unter anderem in Einschränkungen der materiellen Lebensbedingungen.
Um sicherzustellen, dass die Kosten der Zielerreichung möglichst gering ausfallen, bedarf es kluger Politik. Dabei kommt marktbasierten Lösungsansätzen in der sozialen Marktwirtschaft häufig eine besondere Bedeutung zu. Im sozialen Bereich ist staatliches Engagement mitunter besser durch direkte Hilfeleistungen wie Umverteilung über Steuern zu erreichen, als durch Mindestlöhne, Mietpreisregulierungen oder andere Eingriffe, die das wirtschaftliche Gefüge stärker verzerren als Steuern. Auch im Umweltbereich ist es in der Regel effektiver, Preisanreize zu setzen, anstatt mit Vorschriften und Verboten zu regulieren. Allgemein geht es immer auch um Kostenwahrheit. Kostenwahrheit ist in Wirtschaft und Politik von zentraler Bedeutung, da sie den Einzelnen und der Politik Anreize gibt, die gesellschaftlichen Kosten ihres Handelns zu berücksichtigen. Kostenwahrheit schränkt die Handlungsfreiheit weniger ein als Vorschriften und Verbote. So bleiben Anreize für Wirtschaftswachstum und technologische Entwicklung erhalten, während gleichzeitig sozialer Ausgleich und Umweltschutz besser möglich werden. So dürfte ein neuer Fokus auf die positiven Anreize, die durch die soziale Marktwirtschaft gesetzt werden, die zukünftige Welt zwar nicht perfekt machen, aber dennoch nochmals besser als die derzeitige.

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