Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von Nachhaltigkeit und altem Wissen

Juni 2020

„Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe.“
Ulrich Grober, Publizist

Vorstellungen für gute unternehmerische Rahmenbedingungen zu erarbeiten und die Zukunft damit selbst zu gestalten, das ist das ambitionierte Ziel des Dis.Kurs Zukunft der Wirtschaftskammer. Nachhaltigkeit ist dabei eines der zentralen Themen. Und da ist die Vision festgeschrieben, Vorarlberg zu einer international angesehenen Modellregion für nachhaltige Entwicklung zu machen. Es steht da auch: „Wir nutzen unsere wirtschaftliche Innovationskraft für enkeltaugliche Lösungen.“
In der Tat existieren in Vorarlberg zahlreiche betriebliche Best-Practice-Beispiele, die in den Bereichen Nachhaltigkeit, Umwelt und Energie wesentliche Beiträge leisten. Denn Nachhaltigkeit und unternehmerischer Erfolg schließen sich nicht aus, ganz im Gegenteil. 

In eine gute Zukunft schauen

Nehmen wir ein solches Best-Practice-Beispiel? Die Firma 11er setzt beispielsweise konsequent auf Nachhaltigkeit, sie geht den innovativen „Cradle-to-Cradle“-Weg des deutschen Umwelt-Pioniers Michael Braungart. Den Beginn hatte die Firma laut Geschäftsführer Thomas Schwarz bereits in den 1980er Jahren gemacht, mit dem Bau der ersten Biogas-Anlage in größerem Stil in Vorarlberg. Geschuldet war das der Tatsache, dass die Kartoffelverarbeitung sehr viel Schälabfall mit sich bringt: „Dieser Abfall ist entweder teuer zu entsorgen. Oder man nutzt den Abfall, um Biogas zu gewinnen.“ Im Laufe der Zeit wurden Anlagen und Systeme sukzessive verbessert, heute werden mit dem gewonnenen und aufbereiteten Biogas die speziellen, mit Gas betriebenen Lastwagen betankt, in der unternehmenseigenen Biogas-Tankstelle. „Damit fahren wir zu den Bauern und zu unserem Lager und holen die Kartoffeln, das ist unser ‚11er-Energiekreislauf‘“, berichtet Schwarz. Überschüssiges Biogas wird ins Erdgasnetz eingespeist. Man müsse in Sachen Nachhaltigkeit versuchen, die Dinge im positiven Sinn auf die Spitze zu treiben, sagt der Geschäftsführer, „bei uns hat sich die Lösung angeboten.“ Das Unternehmen reduziert Abfall, senkt die CO2-Belastung: „Beispielhaft gesprochen: Wir könnten mit unserem Biogas jährlich 2600 gasbetriebene Pkw jeweils 15.000 Kilometer fahren lassen.“ 11er verarbeitet übrigens an die 80.000 Tonnen Kartoffeln pro Jahr. Und Schälabfall sowie aussortierte Produkte, alles geht in diese Biogasanlage. Was bedeutet Nachhaltigkeit für Schwarz? „Es wird nicht in alle Ewigkeit so weitergehen, immer nur zu nehmen und sich über das, was passiert, keine Gedanken zu machen. Auch unsere Kinder sollen noch in eine gute Zukunft schauen können und nicht die Scherben unserer Generation auflesen müssen.“

Gute Lösungen

Ein weiteres nachhaltiges Beispiel? „Grünoben 2021“ ist der Name einer neuen Fachveranstaltung in Österreich rund um das Thema Gebäudebegrünung, wobei die Pilotveranstaltung nächstes Jahr in Vorarlberg stattfinden wird. „Bauwerksbegrünungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit und Energieeffizienz, sie sind eine sinnvolle Investition in eine nachhaltige Zukunft“, sagt Nadine Amann – von „Amann die Dachmarke“ – im Namen der Trägerschaft.
Für die Klimakrise und die Auswirkungen der Pandemie gebe es Lösungen, die Ökologie, Gesundheit und Wirtschaft gleichermaßen fördern, heißt es in einem Positionspapier, „es ist wichtiger denn je, die Natur zurück in die Städte und Kommunen zu holen, zur Kühlung in immer heißeren Sommern, als wertvollen Naherholungsraum und zur Gesundheitsvorsorge“. Zwei gute Argumente von mehreren? „Vier Grad Celsius niedriger ist die Innenraumtemperatur unter einem Gründach im Vergleich zu Kies- oder Blechdächern.“ Und: „Über 30 Wildbienenarten sind bei einem dauerhaften, vielfältigen Blütenangebot auf Dachbegrünungen im urbanen Raum zu beobachten.“
Aber auch in wirtschaftlicher Sicht machen Bauwerksbegrünungen Sinn, sagen die Initiatoren: „Die heimische Branche der Bauwerksbegrünung könnte mehr als 8000 direkte und weitere 25.000 indirekt entstehende neue Arbeitsplätze schaffen, ein gezieltes Maßnahmenpaket in dem Bereich könnte also österreichweit zu einem dauerhaft wirksamen Job- und Konjunkturmotor werden.“

Und damit Geld sparen

Die Firma 11er ist übrigens Ökoprofit und Ökoprofit Plus-zertifiziert. Gerade Ökoprofit zeigt, dass Ökonomie und Ökologie nicht zwingend ein Gegensatz sein müssen: ein System, das Betrieben hilft, eingesetzte Ressourcen und damit bares Geld zu sparen. Erreicht wird das, indem, von Fachleuten unterstützt, in Betrieben zunächst die Stoffströme analysiert und, darauf aufbauend, Produkte und Prozesse verbessert werden. Ressourcen sparen, Umwelt schützen, Geld verdienen, so ließe sich die Sache auch zusammenfassen. Zu den 177 Vorarlberger Betrieben, die aktuell zertifiziert sind, zählen kleine Handwerksbetriebe und große Industrieunternehmen. Schulen sind mit dabei und Banken auch. Das Land Vorarlberg ist zertifiziert, die Wirtschaftskammer Vorarlberg ebenfalls. „Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft müssen ausgewogen sein, das ist Nachhaltigkeit“, sagt Verena Lässer-Kemple, die Ökoprofit-Koordinatorin im Amt der Landesregierung.

Der Ursprung des Begriffes

Schauen wir kurz zurück? Hans Carl von Carlowitz verwendet 1713 erstmals den Begriff der Nachhaltigkeit im Sinne eines verantwortungsbewussten Umgangs mit einer Ressource. Der Oberberghauptmann schreibt in seinem Buch „Sylvicultura oeconomica“, dass der Anbau von Holz so anzustellen sei, „dass es eine continuierlich beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weil es eine unentberliche Sache ist.“ Für von Carlowitz heißt nachhaltig wirtschaften, nicht mehr Holz zu schlagen, als nachwachsen kann. Er stellt sich gegen den auf kurzfristigen Gewinn ausgelegten Raubbau, er fordert einen respektvollen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen. Doch seine Mahnung gerät in Vergessenheit. Mit der Industrialisierung wird das Handlungsprinzip der Nachhaltigkeit entwertet, der freie Markt wird Mitte des 19. Jahrhunderts zum Maßstab, und „Gewinnmaximierung, nicht Naturgesetzmäßigkeit“ zum neuen Credo, schreibt Wissenschaftlerin Iris Pufé. Es wird über einhundert Jahre dauern, bis Ökologie und Nachhaltigkeit wieder zum Thema werden.

Die Premiere im Landtag

Mit den Ökologie- und Grünbewegungen in den 1980er Jahren und der wachsenden Erkenntnis, dass die Ressourcen auf unserer Erde nicht unendlich sind, erstarkt dann aber die Debatte. 1987 wird der Begriff von der UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung erstmals definiert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ 
Im Vorarlberger Landtag taucht der Ausdruck erst Jahre später auf. Grünen-Abgeordnete Brigitte Flinspach darf es für sich in Anspruch nehmen, den Begriff im Landtag erstmals verwendet zu haben, als sie im Sommer 1994 sagt, dass eines der Themen ihrer Fraktion „die Nachhaltigkeit“ sein wird. Der Begriff bleibt vorerst den Grünen vorbehalten, Parteichef Christian Hörl erklärt zwei Jahre später, er betrachte „den Umbau dieses Landes in ein nachhaltiges Vorarlberg als die wesentlichste Aufgabe in den nächsten 20 Jahren, und zwar als ein gemeinsames Ziel, das wir miteinander formulieren sollten“.
Seither ist viel über Nachhaltigkeit gesprochen worden. Im Laufe der Zeiten haben sich Begriff, Prinzip und Leitbild der Nachhaltigkeit gewandelt und erweitert, hat das Thema Eingang in Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, in Verwaltung, Forschung und Lehre gefunden.
Das Wort ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Ein Teil der Gesellschaft richte sein Leben heute entsprechend aus und ein zentraler Grund für die rasante Entwicklung sei ein vollzogener Imagewandel, schreibt Humangeograph Simon Henkel in einem Artikel des Zukunftsinstituts: „Das Thema Nachhaltigkeit hat längst nichts mehr mit Verzicht, mit schlechtem Gewissen oder militanten Hardlinern zu tun. Ganz im Gegenteil: Nachhaltigkeit macht Spaß, ist ästhetisch und genussorientiert.“
Zwar sagt Publizist Ulrich Grober, dass „wo alles ‚nachhaltig‘ wird, am Ende nichts mehr nachhaltig ist.“ Aber es gibt auch andere, die mit der Entwicklung zufrieden sind. So stellt Iris Pufé fest, dass die Sache vor zehn, fünfzehn Jahren „noch mehr Schwung und mehr Elan gehabt“ habe, Nachhaltigkeit mittlerweile aber in den Alltag eingezogen sei: „Und genau das ist die sehr gute Nachricht, denn es zeigt, dass aus dem Hype Wirklichkeit und aus der Hysterie angewandte Routine geworden ist.“ Nachhaltigkeit wird heute als ressourcenökonomisches Prinzip verstanden, das gewährleistet, ein System in seiner Funktionsweise dauerhaft aufrechtzuerhalten. Pufé nennt die Nachhaltigkeit-Ziele: „Sicherung der menschlichen Existenz; Bewahrung der Ressourcen als Lebensgrundlage; Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotenzials; Gewährleistung der Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten heutiger wie künftiger Generationen weltweit.“

Ein tieferes Verständnis

Doch Nachhaltigkeit ist für viele mehr als nur ein wissenschaftliches Verständnis einer bestimmten Thematik. Für Grober etwa sind die entsprechenden Überlegungen tief in unserer Kultur verwurzelt, ist „Nachhaltigkeit unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“. In diese Richtung argumentieren aber auch – unabhängig voneinander – Architekt Christoph Dünser, Partner bei Hermann Kaufmann und Matthias Ammann, der Initiator der Vorarlberger Holzbaukunst und der Holzbau Austria. Dünser sagt: „Nachhaltigkeit ist ein Wort für etwas, das es bei uns immer schon gegeben hat.“ Die Idee und das Bestreben, das Vorhandene bestmöglich und nachhaltig zu nutzen, sei aus der einstigen Armut des Landes und der daraus resultierenden Grundhaltung heraus entstanden. Alte Vorsäße etwa würden zeigen, was es einst an Verständnis und an Wissen gegeben habe, das heute als nachhaltig gelte, sagt der international tätige Architekt. 
Wobei Dünser davor warnt, Nachhaltigkeit etwa auf eine Almhütte zu reduzieren. Der Architekt baut nach nachhaltigen Maßstäben derzeit in Waldenburg in Baden-Württemberg eine Industriehalle und sagt: „Man überträgt das Prinzip auf ein größeres Volumen. Holzbau war in den vergangenen Jahren zu immer höheren Leistungen in der Lage. Nachhaltigkeit ist längst schon konkurrenzfähig geworden, in großem Maßstab.“

Die Amazon-Gesellschaft

In Vorarlberg habe man dieses Wissen teilweise tradiert, Vorarlberger seien durchaus auch für Eigenschaften bekannt, die man als nachhaltig bezeichnen könne. Aber so manche gegenläufige Entwicklung richtet da immensen Schaden an: „Wir haben uns zu einer Amazon-Gesellschaft entwickelt. Man bestellt über das Internet eine Ware und das erlöst einen davon, sich fragen zu müssen, wie und unter welchen Bedingungen diese Ware überhaupt entsteht.“ Nachhaltigkeit ist für den Architekten also nicht nur ein Bekenntnis zur Regionalität, sondern geradezu die Folge aus all dem: „Nachhaltig kann nur etwas sein, das auch regional ist. Es wird uns heute aber viel zu leichtgemacht, irgendwo etwas zu bestellen und damit auch über alles hinwegzusehen.“ 
Auch Verbandsmanager Matthias Ammann greift diesen Punkt auf. Denn Nachhaltigkeit in ihrem richtigen Verständnis sei „Besinnung auf das Wesentliche, auf den Ursprung, auf die Regionalität, auf die Reduktion“. Ammann sagt, dass die Vorarlberger ein tieferes, ein nahezu intuitives Verständnis für die entsprechenden Themen hätten. Und ähnlich wie Dünser führt auch Ammann diesen Umstand auf die Erfahrungen vergangener Generationen zurück. Denn die einstige Armut des Landes habe die Menschen dazu gebracht, „mit Hausverstand ihre Dinge trotzdem gut und schön zu machen“. Alte Wälderhäuser oder alte Montafonerhüsle seien mit ihrer natürlichen Anmut bestes Zeugnis dieses alten Verständnisses: „Die haben gewusst, wie und in welchem Material sie ihr Haus hinstellen müssen, damit es so ausschaut, als hätte es immer schon dorthin gehört.“

Verantwortung

Beschäftige er sich mit Nachhaltigkeit, komme er immer wieder auf folgende Begriffe: „Verantwortung. Regionalität. Kleinheit.“ Für Ammann hat die aktuelle Corona-Krise übrigens etwas sichtbarer gemacht, was zwar zuvor schon bekannt gewesen, aber vielfach nicht so ernst genommen worden sei: „Die Tatsache, wie gut das ist, wenn man regional auf notwendige Sachen zugreifen kann und eine gewisse Unabhängigkeit hat.“ Auch deswegen hat für ihn Nachhaltigkeit viel mit Balance zu tun: „Geht’s meinem Nachbarn gut, geht’s mir auch gut. Das ist die Grundbasis.“
Ergo müsse man in heimischen Geschäften einkaufen, ergo müssen man die heimische Wirtschaft unterstützen: „Denn der Tod jeder Regionalität ist der hemmungslose Online-Handel.“ Nachhaltigkeit heißt in dieser Lesart, sich der Wichtigkeit und der Bedeutung regionaler Strukturen bewusst zu werden. 

Kartoffeln aus Ägypten

Für Iris Pufé ist eine nachhaltige Entwicklung übrigens „ein Experiment, das sorgfältig zu durchdenken, fachübergreifend zu erarbeiten und immer wieder zu reflektieren ist“. Und da ist noch einiges zu tun. Matthias Ammann sagt, er habe dieser Tage einen befreundeten Bauern gefragt, ob er von ihm Frühkartoffeln kaufen könne. Jawohl, habe ihm der Bauer geantwortet, er habe welche, derzeit halt noch aus Ägypten. Ammann nahm sie nicht.

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„Nachhaltigkeit“, Iris Pufè, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz, München, 2017.
Weitere Quellen: zukunftsinstitut.de; Demokratiezentrum.org.

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