Edith Hessenberger

Vorarlberger Stickereien für Nigeria: Rückblicke auf einen Boom

Dezember 2016

Die 1970er- und 1980er-Jahre bescherten der Vorarlberger Stickereibranche sprichwörtlich goldene Zeiten: Im Zuge des nigerianischen Ölbooms fanden teure österreichische Stickereien unter dem Label „Swiss Lace“ plötzlich reißenden Absatz. Ein dreijähriges Interviewprojekt machte es sich im Auftrag des Vorarlberg Museum zur Aufgabe, unterschiedliche Perspektiven und Erinnerungen zu diesem einmaligen Zeitfenster einzufangen und die Bedeutung des Exportbooms für die Menschen in Vorarlberg im Rahmen eines Buchs aufzuarbeiten.

Gespräche mit Menschen, die in den Stickereiexport nach West­afrika involviert waren, zeigen die vielfältigen Dimensionen dieser Branche auf. Nicht nur die vielen an der Stickereiproduktion beteiligten Berufsgruppen machen die Herstellung und den Verkauf dieser exquisiten Textilien zu einem komplexen Phänomen. Der Export in außereuropäische Länder – in diesem Fall Nigeria – eröffnet transnationale Aspekte, die zu dokumentieren sich das Buch „SpitzenZeit. Vorarlberger Erinnerungen zum Stickereiexport nach Nigeria“ zum Ziel macht.

Mitte der 1970er-Jahre häuften sich im Vorarlberger Rheintal, und hier vor allem im Stickerei-Zentrum Lustenau, die Besuche nigerianischer Kundschaften. Sie machten die Branche auf diesem Weg für die einheimische Bevölkerung sichtbarer und korrigierten das Bild vermeintlich armer, unterprivilegierter Afrikanerinnen und Afrikaner. Denn diese traten als umworbene Kundschaft selbstbewusst auf und hinterließen nicht selten Aufträge in Schilling-Millionen-Höhe.
Die kulturelle Vielfalt, aber auch die gesellschaftlichen Extreme Nigerias erschlossen sich vor allem jenen, die berufsbedingt regelmäßig nach Nigeria reisten. Denn die Stickerei-Unternehmen bemühten sich natürlich auch vor Ort um Aufträge, während die jeweiligen nigerianischen Regierungen die nationale Wirtschaft – zumindest in der Gesetzgebung, wenn schon nicht im privaten Leben – durch Importverbote von Luxusgütern wie Stickereien zu schützen versuchten. Um Nigeria nicht als Absatzmarkt zu verlieren, war ab dem offiziellen „Import Ban“ 1976 Kreativität seitens der österreichischen Sticker gefragt. So begann man etwa ins Nachbarland Benin zu exportieren, von wo aus die nigerianische Kundschaft selbst für den illegalen Import nach Nigeria zuständig war. Zusätzlich starteten einige Betriebe den Versuch, als nigerianisch-österreichische Kooperationen Filialen in Nigeria zu gründen und vor Ort Stickereien zu produzieren.

Die Bedeutung all dieser wirtschaftlichen Entwicklungen für die Menschen in der Vorarlberger Stickereibranche waren vielseitig, aber in jedem Fall intensiv: Überdurchschnittlich lange Arbeitstage, häufige, anstrengende Flug- und Taxi-Reisen, Verzicht auf Lebensqualität und Familienleben, hohes persönliches Risiko angesichts der Sicherheitslage in Nigeria sowie der Illegalisierung des eigenen Arbeitsfeldes, und nicht zuletzt periodische Verlagerungen des Lebensmittelpunkts nach Nigeria kennzeichneten das Arbeitsleben vieler Erzählerinnen und Erzähler. Die Erinnerungserzählungen der Menschen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren im sogenannten „Nigeria-Geschäft“ tätig waren, sind abenteuerlich: Sie berichten von mafiösen Netzwerken in Kundenkreisen, von Verhaftungen österreichischer Verkäufer, von verschwundenen Geldkoffern und Warenverbrennungen durch die nigerianische Regierung.
Die Erzählungen zeigen aber auch Sympathien für die Menschen in Nigeria, für das Land und seine Schönheit, sowie für das „Lebensgefühl“ im nigerianischen Alltag. Beziehungen entwickelten sich und hinterließen Spuren: So wurde seitens einer Gruppe von nigerianischen Kunden zwei Vorarlbergern im Rahmen einer Zeremonie ein „Chief“-Titel verliehen – eine Geste, die stolz angenommen wurde. Einige Kontakte zu ehemaligen Kunden bestehen bis heute – wenngleich der Großteil der Erzählenden längst aus dem Stickereigeschäft ausgestiegen ist und die Branche angesichts der Konkurrenz aus Fernost und aufgrund des dramatisch gefallenen Kurses der nigerianischen Währung schwierige Zeiten durchläuft.

Das Buch „SpitzenZeit“ bemüht sich, die Vielfalt der Aspekte, Eindrücke und Abenteuer rund um den Vorarlberger Stickereiexport nach Westafrika nachzuzeichnen und zu verdichten – und damit zugleich die enorme Bedeutung jener Jahrzehnte aufzuzeigen: Abgesehen von den exorbitanten Gewinnen, die für kurze Zeit und durch immensen persönlichen Einsatz erzielt werden konnten, stellt das „Nigeria-Geschäft“ ein zentrales Kapitel in der traditionsreichen Kulturgeschichte der Vorarlberger Stickereiproduktion dar. Es bleibt zu wünschen, dass dieses Kapitel mit all seinem Wissen um die Kulturtechnik Stickerei in Vorarlberg noch länger nicht geschlossen werden muss.

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