

Vorarlbergs Wirtschaft im Wandel der Zeit
Vom Agrarland zum Textilland zur heute diversifizierten Wirtschaft, die sich erfolgreich dem globalen Wettbewerb stellt – eine Zeitreise.
Die Anfänge – Aufstieg und Niedergang
Wagen wir einen Rückblick, gemeinsam mit Historikern*? Die Industrialisierung, die hierzulande im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Schweizer Nachbarschaft begann, wurde auch in Vorarlberg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum entscheidenden Faktor der Veränderung von Gesellschaft und Kultur. Zuvor war Vorarlberg ein Agrarland gewesen, ein armes Land. Die Bevölkerung in Vorarlberg war spätestens im 17. Jahrhundert derart gewachsen, dass eine Ernährung ausschließlich durch die heimische Landwirtschaft nicht mehr möglich war. Vorarlberger begannen, in Heimarbeit Produkte zu fertigen oder Dienstleistungen anzubieten, viele aber wanderten als Saisonarbeiter aus, Kinder wurden in die Ferne geschickt. „Der Begriff der Schwabenkinder“, sagt Historiker Christian Feurstein, „wurde zu einem prägenden Begriff dieser Zeit.“
Erst als im Zuge der Industrialisierung mehr und mehr Arbeitsmöglichkeiten innerhalb Vorarlbergs entstanden, schwächte die Saisonwanderung ab. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden in Vorarlberg die ersten Manufakturen, um 1830 wurden in Vorarlberg die ersten monumentalen Fabrikbauten errichtet, Spinnereien. Es folgten Webereien, Bleichen, Färbereien, Druckereien, die Vorarlberger Textilindustrie wurde äußerst vielseitig – und zum alles dominierenden Wirtschaftszweig. Um 1850 dominierte die Textilindustrie bereits mit 90 – von insgesamt 107 – Betrieben, die Textilindustrie erbrachte 60 Prozent der damaligen gesamten Erwerbssteuer.
Historiker Peter Melichar sagt, dass die Textilindustrie vor allem deshalb so erfolgreich werden konnte, „weil durch jahrhundertelange Heimarbeit erworbene Kompetenzen vorhanden waren, weil ähnliche Traditionen in der Schweiz Vorbildwirkung zeitigten und es zudem keine nennenswerten Rohstoffe gab, die andere Produktionszweige begünstigt hätten“. Zudem siedelten sich mit Schindlers, Jennys und Schöllers kapitalkräftige Schweizer Fabrikanten in Vorarlberg an, um das Gebiet der Monarchie als Absatzgebiet zu nutzen.
„Verabscheut und herbeigesehnt“
Günstige Voraussetzungen habe es im Land gegeben, berichtet auch Historiker Gerhard Wanner: „Flachsanbau und Leinenerzeugung, Textilmanufakturen und Lohnarbeit, Profitstreben und überregionale Märkte.“ Wie Wanner schreibt, verschwand die Jahrtausende alte kleinbäuerliche Wirtschaft im Laufe eines Jahrhunderts fast vollkommen. Der Wandel aber verunsicherte viele: „Es dominierte weiterhin traditionelles Denken, die neue industrielle Welt wurde sehr widersprüchlich erlebt – bekämpft und doch benötigt, verabscheut und doch herbeigesehnt.“ Denn die Entwicklung der ersten Manufakturen und Verleger, die Gründung der ersten Industriebetriebe, sie hatten selbstredend auch soziale, kulturelle und politische Begleiterscheinungen, sagt wiederum Melichar: „Furchtbare Arbeitsbedingungen, schlechte Löhne, Kinderarbeit. Vierzehnstündige Arbeitszeiten von 5.30 bis um 19.30 waren die Regel.“ Vorarlbergs Kreishauptmann Johann Nepomuk Ebner, selbst an mehreren Industriebetrieben beteiligt, habe in seinem Tagebuch im Jahr 1836 von der „Sklaverei der weißen Bevölkerung“ geschrieben. Verboten, wirklich verboten, wurde Kinderarbeit erst im Jahr 1918. Da war Vorarlberg längst schon Industrieland geworden.
Effekte der Industrialisierung
Und mit dem Wandel änderte sich Melichar zufolge vieles. Beispiele? Teile der Landschaft wurden durch die Errichtung großer Fabrikbauten und durch das Entstehen oftmals ganzer Ensembles um- und neugestaltet. Es kam zu einer Umstrukturierung der Bevölkerung durch Berufsumschichtungen und Migrationsbewegungen – Industrie und Bahnbau hatten Tausende Arbeitskräfte nach Vorarlberg gezogen, die Zahl der Einwanderer wuchs stetig. Vorarlberg war um 1910 nach wie vor das Land mit der höchsten Industrialisierungsquote innerhalb der Monarchie – im Land waren 45,8 Prozent, im österreichischen Durchschnitt aber nur 24,3 Prozent in der Industrie beschäftigt –; Vorarlberg war damals auch das Land mit dem höchsten Ausländeranteil, vom Sonderfall Triest abgesehen. Melichar nennt noch einen wichtigen Effekt der Industrialisierung: „Über den erworbenen Reichtum bekamen Unternehmer Macht und Einfluss und machten diesen auch politisch geltend.“
Ein zeitverzögerter Niedergang
Nach den beiden Weltkriegen, unterbrochen von der wirtschaftlich schwierigen Zwischenkriegszeit, und der Rückkehr in die Normalität gelang es 1945, mithilfe der Marshallplan-Gelder am Wirtschaftswunder zu partizipieren. Während international die Textilindustrie schon in den Sechzigerjahren in die Krise geriet, verdienten die Vorarlberger Textilindustriellen laut Melichar „noch sehr gut, vor allem aufgrund der exorbitant geringen Löhne, die eine hohe Fluktuation mit sich brachten und die Notwendigkeit, Gastarbeiter anzuwerben“. Mitte der 1960er-Jahre habe die Landesregierung von einem „gestörten Arbeitsmarkt“ gesprochen, da viermal so viele Stellen angeboten wie nachgefragt wurden. Und doch zeichnete sich ab den 1980er-Jahren die Wende ab.
Der Niedergang lässt sich in Zahlen ausdrücken: Waren 1955 noch über 72 Prozent der Beschäftigten in der Vorarlberger Industrie in der Textilbranche tätig, waren es 1993 gerade noch 34 Prozent. Umfasste 1965 die Industrieproduktion in Vorarlberg noch 70 Prozent des gesamten Volumens, waren es 1985 gerade noch 40 und 2005 wenig mehr als zehn Prozent. Mit dem Schicksal der Firmen war das von Tausenden Mitarbeitern verflochten. Doch etwas Gutes gab es. Nach Angaben der Wirtschaftsstandortgesellschaft war in der Vorarlberger Textilindustrie stets sehr hochautomatisiert gearbeitet worden: „Die Branche war extrem gut in Automatisierung und Maschinenelektronik, die Mitarbeiter waren entsprechend gut ausgebildet – und konnten in anderen Wirtschaftsbereichen bestens gebraucht werden.“ Mit dem Niedergang der Textilindustrie seien „Elektro und Metall im gleichen Atemzug groß geworden – der Strukturwandel ging also fast von selbst vonstatten.“ Das einstige Textilland ist heute einer breit diversifizieren – und überaus starken – Wirtschaft gewichen.
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