Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Vorarlbergs Wirtschaft im Wandel der Zeit

November 2018

Vom Agrarland zum Textilland zur heute diversifizierten Wirtschaft, die sich erfolgreich dem globalen Wettbewerb stellt – eine Zeitreise.

Die Anfänge – Aufstieg und Niedergang

Wagen wir einen Rückblick, gemeinsam mit Historikern*? Die Industrialisierung, die hierzulande im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Schweizer Nachbarschaft begann, wurde auch in Vorarlberg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum entscheidenden Faktor der Veränderung von Gesellschaft und Kultur. Zuvor war Vorarlberg ein Agrarland gewesen, ein armes Land. Die Bevölkerung in Vorarlberg war spätestens im 17. Jahrhundert derart gewachsen, dass eine Ernährung ausschließlich durch die heimische Landwirtschaft nicht mehr möglich war. Vorarlberger begannen, in Heimarbeit Produkte zu fertigen oder Dienstleistungen anzubieten, viele aber wanderten als Saisonarbeiter aus, Kinder wurden in die Ferne geschickt. „Der Begriff der Schwabenkinder“, sagt Historiker Christian Feurstein, „wurde zu einem prägenden Begriff dieser Zeit.“ 
Erst als im Zuge der Industrialisierung mehr und mehr Arbeitsmöglichkeiten innerhalb Vorarlbergs entstanden, schwächte die Saisonwanderung ab. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden in Vorarlberg die ersten Manufakturen, um 1830 wurden in Vorarlberg die ersten monumentalen Fabrikbauten errichtet, Spinnereien. Es folgten Webereien, Bleichen, Färbereien, Druckereien, die Vorarlberger Textilindustrie wurde äußerst vielseitig – und zum alles dominierenden Wirtschaftszweig. Um 1850 dominierte die Textilindustrie bereits mit 90 – von insgesamt 107 – Betrieben, die Textilindustrie erbrachte 60 Prozent der damaligen gesamten Erwerbssteuer.
Historiker Peter Melichar sagt, dass die Textilindustrie vor allem deshalb so erfolgreich werden konnte, „weil durch jahrhundertelange Heimarbeit erworbene Kompetenzen vorhanden waren, weil ähnliche Traditionen in der Schweiz Vorbildwirkung zeitigten und es zudem keine nennenswerten Rohstoffe gab, die andere Produktionszweige begünstigt hätten“. Zudem siedelten sich mit Schindlers, Jennys und Schöllers kapitalkräftige Schweizer Fabrikanten in Vorarlberg an, um das Gebiet der Monarchie als Absatzgebiet zu nutzen.
 
„Verabscheut und herbeigesehnt“

Günstige Voraussetzungen habe es im Land gegeben, berichtet auch Historiker Gerhard Wanner: „Flachsanbau und Leinenerzeugung, Textilmanufakturen und Lohnarbeit, Profitstreben und überregionale Märkte.“ Wie Wanner schreibt, verschwand die Jahrtausende alte kleinbäuerliche Wirtschaft im Laufe eines Jahrhunderts fast vollkommen. Der Wandel aber verunsicherte viele: „Es dominierte weiterhin traditionelles Denken, die neue industrielle Welt wurde sehr widersprüchlich erlebt – bekämpft und doch benötigt, verabscheut und doch herbeigesehnt.“ Denn die Entwicklung der ersten Manufakturen und Verleger, die Gründung der ersten Industriebetriebe, sie hatten selbstredend auch soziale, kulturelle und politische Begleiterscheinungen, sagt wiederum Melichar: „Furchtbare Arbeitsbedingungen, schlechte Löhne, Kinderarbeit. Vierzehnstündige Arbeitszeiten von 5.30 bis um 19.30 waren die Regel.“ Vorarlbergs Kreishauptmann Johann Nepomuk Ebner, selbst an mehreren Industriebetrieben beteiligt, habe in seinem Tagebuch im Jahr 1836 von der „Sklaverei der weißen Bevölkerung“ geschrieben. Verboten, wirklich verboten, wurde Kinderarbeit erst im Jahr 1918. Da war Vorarl­berg längst schon Industrieland geworden.
 
Effekte der Industrialisierung

Und mit dem Wandel änderte sich Melichar zufolge vieles. Beispiele? Teile der Landschaft wurden durch die Errichtung großer Fabrikbauten und durch das Entstehen oftmals ganzer Ensembles um- und neugestaltet. Es kam zu einer Umstrukturierung der Bevölkerung durch Berufsumschichtungen und Migrationsbewegungen – Industrie und Bahnbau hatten Tausende Arbeitskräfte nach Vorarlberg gezogen, die Zahl der Einwanderer wuchs stetig. Vorarlberg war um 1910 nach wie vor das Land mit der höchsten Industrialisierungsquote innerhalb der Monarchie – im Land waren 45,8 Prozent, im österreichischen Durchschnitt aber nur 24,3 Prozent in der Industrie beschäftigt –; Vorarlberg war damals auch das Land mit dem höchsten Ausländeranteil, vom Sonderfall Triest abgesehen. Melichar nennt noch einen wichtigen Effekt der Industrialisierung: „Über den erworbenen Reichtum bekamen Unternehmer Macht und Einfluss und machten diesen auch politisch geltend.“

Ein zeitverzögerter Niedergang

Nach den beiden Weltkriegen, unterbrochen von der wirtschaftlich schwierigen Zwischenkriegszeit, und der Rückkehr in die Normalität gelang es 1945, mithilfe der Marshallplan-Gelder am Wirtschaftswunder zu partizipieren. Während international die Textilindustrie schon in den Sechzigerjahren in die Krise geriet, verdienten die Vorarlberger Textilindustriellen laut Melichar „noch sehr gut, vor allem aufgrund der exorbitant geringen Löhne, die eine hohe Fluktuation mit sich brachten und die Notwendigkeit, Gastarbeiter anzuwerben“. Mitte der 1960er-Jahre habe die Landesregierung von einem „gestörten Arbeitsmarkt“ gesprochen, da viermal so viele Stellen angeboten wie nachgefragt wurden. Und doch zeichnete sich ab den 1980er-Jahren die Wende ab. 
Der Niedergang lässt sich in Zahlen ausdrücken: Waren 1955 noch über 72 Prozent der Beschäftigten in der Vorarlberger Industrie in der Textilbranche tätig, waren es 1993 gerade noch 34 Prozent. Umfasste 1965 die Industrieproduktion in Vorarlberg noch 70 Prozent des gesamten Volumens, waren es 1985 gerade noch 40 und 2005 wenig mehr als zehn Prozent. Mit dem Schicksal der Firmen war das von Tausenden Mitarbeitern verflochten. Doch etwas Gutes gab es. Nach Angaben der Wirtschaftsstandortgesellschaft war in der Vorarlberger Textilindustrie stets sehr hochautomatisiert gearbeitet worden: „Die Branche war extrem gut in Automatisierung und Maschinenelektronik, die Mitarbeiter waren entsprechend gut ausgebildet – und konnten in anderen Wirtschaftsbereichen bestens gebraucht werden.“ Mit dem Niedergang der Textilindustrie seien „Elektro und Metall im gleichen Atemzug groß geworden – der Strukturwandel ging also fast von selbst vonstatten.“ Das einstige Textilland ist heute einer breit diversifizieren – und überaus starken – Wirtschaft gewichen.

„Die neue industrielle Welt wurde sehr widersprüchlich erlebt – bekämpft und doch benötigt, verabscheut und doch herbeigesehnt.“ Gerhard Wanner, Historiker
„Mit der Exportwirtschaft fest verbunden sind Wohlstand und viele Arbeitsplätze.“ Karlheinz Rüdisser, Wirtschaftslandesrat

Die Gegenwart – der Erfolg der Wirtschaft

Die Wirtschaftsstandortgesellschaft hat auch die Aufgabe, auswärtigen Unternehmen Vorarlberg schmackhaft zu machen. Und wenn Joachim Heinzl, Geschäftsführer dieser Gesellschaft, ausländischen Interessenten den Standort erklärt, dann sagt er, erstens: „Die Vorarlberger Wirtschaft hat Kompetenzen, die andere Regionen nicht haben. Sie ist extrem divers, es wird viel zusammengearbeitet, es gibt jede Kompetenz vor Ort.“ Zweitens: „Man hat am Standort eine sehr hohe Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter, eine hohe Loyalität, auch das unterscheidet uns von anderen Regionen.“ Drittens: „Vorarlberg liegt inmitten einer der weltweit stärksten Wirtschaftsregionen. Die Netzwerke funktionieren, man findet tolle Märkte.“ 

Ein stabiles Wachstum

Die Geschichte der Vorarlberger Wirtschaft ist bisher, mit Ausnahme der Krisenjahre 2008/2009, eine Geschichte des steten Erfolgs. Handwerk und Gewerbe sind erfolgreich neben einem starken Dienstleistungssektor, die Industrie mit den Zugpferden Metall, Elektro, Nahrungsmittel reüssiert neben einem starken Tourismus, die Baubranche ist ausgelastet, innovative Ideen ziehen sich durch alle Branchen. Etablierten Unternehmen stehen kreative Jungunternehmer gegenüber, die Erfolg in bestimmten Nischen suchen und finden. Die Mischung der Betriebe, die Netzwerke, die Lage, der Unternehmergeist und die Verbundenheit der Unternehmer mit dem Land, all das zeichnet Vorarlbergs Wirtschaft aus.
Im Vorjahr hat die Vorarlberger Wirtschaft erstmals Waren und Güter im Wert von über zehn Milliarden Euro exportiert. Heinzl konstatiert: „Von Vorarlberg aus Weltmärkte erobern? Eine extreme unternehmerische Leistung.“ 2017 lag Vorarlbergs Exportquote bei 58 Prozent. Laut Wirtschaftsstandortgesellschaft überragt unser Bundesland, gemessen an der Exportquote pro Einwohner, selbst Baden-Württemberg und Bayern. Apropos: „Die Lage inmitten sehr starker Regionen hält Vorarlbergs exportierende Wirtschaft fit, der Zweitbeste verkauft in Baden-Württemberg genau gar nichts. Da ist Qualität gefordert“, sagt Heinzl.

Wie wichtig all das ist, unterstreicht Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser: „Mit der Exportwirtschaft fest verbunden sind Wohlstand und viele Arbeitsplätze.“ Es heißt, dass jeder zweite Arbeitsplatz im Land direkt oder indirekt vom Export abhängig ist. Und dennoch müsse man auch „darauf schauen, dass uns das so bleibt“, erklärt wiederum Heinzl.

Und was braucht die Wirtschaft, um ihr Niveau halten zu können? Marco Tittler, stellvertretender Direktor der Wirtschaftskammer nennt zentrale wirtschaftspolitische Herausforderungen. Als da wären: Bildung. Fachkräfte. Infrastruktur. Bürokratieabbau. Was etwa Bürokratie, Entlastung, Besteuerung betreffe, müssten die Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene der Realität ins Auge sehen: „Vorarlbergs Wirtschaft steht in einem globalen Wettbewerb, viele ausländische Konkurrenten finden in ihren Regionen aber teilweise wesentlich bessere Rahmenbedingungen vor.“ Eine weitere, zentrale Herausforderung betrifft „Raum – Fläche“ und die Frage, wie Vorarlberg mit diesem essenziellen Thema in Zukunft umgehen soll. „Man hat es in der Vergangenheit verstanden, große Betriebe im Land zu halten, ich glaube auch, dass die Wertschätzung gegenüber der Wirtschaft groß ist – aber es wird für Betriebe immer schwieriger, sich zu entwickeln.“ Diese ständigen Debatten um die Landesgrünzone! „Es hilft doch nicht, zu sagen, wir halten unter allen Umständen das, was vor 40 Jahren unter völlig anderen Voraussetzungen und mit einem unglücklichen Namen konzipiert worden ist. Selbstverständlich geht es nicht darum, einer möglichen wirtschaftlichen Entwicklung alles andere unterzuordnen. Es geht um das richtige Miteinander, um Wirtschaft und Umwelt, nicht um Wirtschaft gegen Umwelt, es geht um eine nachhaltige solide Entwicklung für Vorarlberg.“

Fundamentale Positionen? Helfen nicht weiter. Doch da würden Ideologien aufeinanderprallen und Einzelfälle zu einem falschen Gesamtbild gemacht, „wir merken, dass das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge weniger wird, es ist zu wenig bewusst, was ein hiesiges Unternehmen braucht, um sich im internationalen Wettbewerb behaupten zu können.“ Tittler sagt: „Unsere Produktionsbetriebe haben es verstanden, erfolgreich in die Automatisierung zu gehen. Und sie sind jetzt dabei, in die Digitalisierung zu gehen. Und dabei wurde der Produktionsstandort im Land gehalten!“ Der entscheidende Punkt werde künftig sein, den Wirtschafts- und Produktionsstandort Vorarlberg zu erhalten und nachhaltig zu sichern: „Das ist die beste Zukunftsvorsorge für unser Land.“ Sein Appell: „Lasst uns diskutieren, wie wir das Land gemeinsam entwickeln wollen.“ 

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