Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir blenden alles aus, was uns Angst machen könnte“

März 2015

Bernd Kolb (52) war Internetpionier, galt als Kolumbus des Cyberspace und war später Vorstand der Deutschen Telekom. Kolb stieg aus diesem Leben aus, begab sich auf Weltreise und gründete den „Club of Marrakesh“. Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ plädiert Kolb für ein Umdenken. Seine Ansage: „Wir brauchen qualitatives, kein quantitatives Wachstum.“

Wachstum ist alles, Stillstand ist nichts – lässt sich der Irrweg auf diesen Nenner bringen?

Bernd Kolb: Nein. Wir brauchen dringend Wachstum. Aber eben nicht nur quantitatives, sondern viel mehr qualitatives. Die bedrohliche Entwicklung unserer globalen Gesellschaft ist in erster Linie eine Frage der Haltung. Solange wir nach dem Motto „je mehr, desto besser“ leben, laufen wir Gefahr, unseren Planeten zu plündern und unsere eigene Lebensgrundlage langfristig zu zerstören. Wir müssen umdenken – das ist das Wachstum, das wir brauchen.

Sie haben einmal gesagt, wenn jeder Mensch den amerikanischen Lebensstil leben würde, bräuchten wir die Kapazität von fünf Erden.

Das ist richtig. Die Zahl wurde wissenschaftlich von vielen Universitäten und Instituten bestätigt. Wenn alle Menschen nach diesem „american way of life“ streben, wie es gerade scheint, hat unsere Zivilisation langfristig keine Zukunft. Das hat übrigens gerade auch die NASA in ihrer Studie zur Zukunft der globalen Entwicklung eindrucksvoll beschrieben.

Doch die Zerstörung schreitet unbeirrbar voran. Auf Ihrer Homepage zeigt ein Liveticker den ständig fortschreitenden Raubbau …

Ja, auf den Tickern können sie diese Entwicklung quasi live mitverfolgen. Das sind Dimensionen, die man sich nur schwer vorstellen kann. Das sollte sich jeder mal anschauen.

„Was in Jahrmillionen entstanden ist, wird in atemberaubender Geschwindigkeit kaputt gemacht“ – so lautet eine Ihrer Ansagen.

Wenn man sich die Geschichte unseres Planeten mal anschaut, blicken wir auf 4,6 Milliarden Jahre zurück. Die Epoche unserer Menschheit ist gerade mal 160.000 Jahre alt. Aber wenn man genau hinsieht, hat die Explosion des Konsums und der Bevölkerungszahlen genau im Jahr 1950 begonnen. Damals lebten nur 2,5 Milliarden Erdenbürger, heute, also nur zwei Generationen später, sind es bereits 7,3  Milliarden. Und alle Schätzungen gehen davon aus, dass wir im Jahr 2050 zwischen neun und elf Milliarden Weltbevölkerung haben werden. Die natürlichen Ressourcen der Erde reichen aber bei Weitem nicht aus, um allen Menschen „unseren“ Lebensstandard zu bieten. Dadurch wird das Thema politisch: Wer entscheidet über Gewinner und Verlierer?

Ist der kritische Punkt in gewissen Bereichen bereits überschritten?

Das lässt sich schwer sagen. Es gibt eine lebendige Debatte über die sogenannten „tipping points“, also den Moment, an dem eine Entwicklung unaufhaltsam ihren Lauf nimmt, obwohl wir deren spätere Auswirkungen heute noch nicht sehen können. Das ist auch genau das Problem. Nehmen wir das Beispiel des Klimawandels: Obwohl unsere Gletscher abschmelzen und sich die Zahl der Naturkatastrophen häuft, nehmen wir das in unserem täglichen Leben nicht wahr. Damit findet dieses Thema für uns einfach nicht statt. Der Mensch agiert selten vorausschauend, wir reagieren eher, wenn etwas schon passiert ist. Diese Haltung ist fatal.

Wir wissen um die Zukunft – und tun nichts dagegen. Ist es das, was Sie so ärgert?

Ja. Wir wussten als Menschheit noch nie so viel, verstehen aber immer weniger. Das genau scheint das Problem. Wir sind heute von der Flut an Informationen derart überfordert, dass wir unbewusst alles ausblenden, was uns Angst machen könnte.

Und die Warner werden nicht gehört.
Das ist der Kassandrakomplex.

Eines ist heute schon klar: Die Botschaft wird falsch kommuniziert. Wir sind Verdränger und denken kurzfristig. Die Diskussion muss aus meiner Sicht ganz neu geführt werden. Die zentrale Frage lautet: Wie wollen wir leben? Was macht uns glücklich und zufrieden? Wie definieren wir Wohlstand? Und wie viel ist genug? Das Verrückte an unserer Welt ist doch, dass Überfluss nicht glücklich macht, obwohl wir alle nach Lebenszufriedenheit streben. Wenn die materielle Formel stimmen würde, dann müsste ja der reichste Mensch der Welt auch der glücklichste sein. Aber ironischerweise ist das oft umgekehrt. Die glücklichsten Menschen der Welt, das zeigen alle Studien, leben einfach. Ich spreche nicht von Armut, das ist sicher auch ein unglücklicher Zustand. Ich spreche davon, dass wir mit weniger Stress und Konsum mehr Zeit und Muße hätten – das ist das Geheimnis eines wirklich guten Lebens. Tom Ford, der frühere Kreativ­direktor von Gucci und einer der angesagtesten Modedesigner der Welt, hat neulich auf die Frage, was Luxus ist, geantwortet: „Zeit und Stille.“ Dem kann ich nur beipflichten.

Sie sprechen in Ihren Vorträgen regelmäßig davon, dass die sieben Todsünden nichts von ihrer Aktualität verloren hätten.

Das ist leider so. Gier und Ignoranz, um nur zwei zu nennen, sind aus meiner Sicht eher mehr als weniger geworden.

Nehmen wir, um diese sieben Todsünden zu illustrieren, doch die 500 Weltkonzerne heraus, die laut Ihren Vorträgen den Planeten regieren …

500 Weltkonzerne erzeugen heute weit mehr als die Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts. Natürlich kommt denen dadurch eine elementare Verantwortung zu. Aber alle 500 sind börsennotiert, und damit gibt es nur eine Spielregel: Profitwachstum. Das müssen wir überdenken. Der Kapitalmarkt ist das Biest.

Wer aber soll diese 500 in die Schranken weisen?

Wir als Konsumenten sind gefordert. Zu einer Dummheit gehört immer einer, der sie anbietet, und einer, der sie kauft. Die Aktionäre sind gefordert. Durch den Besitz von Aktien werden sie Teilhaber der Unternehmen und sind damit auch mitverantwortlich. Es geht nicht nur um „shareholder value“, sondern auch um „shareholder responsibility“.

Die Politik?

Da sollten wir uns keine falschen Hoffnungen machen. Wir leben nicht in einem Zeitalter der Politik, sondern in einem Zeitalter der Ökonomie. Unsere Politik wird im Hinblick aufs Bruttosozialprodukt gemacht, das ist Malen nach Zahlen.

Sie fordern eine Abkehr vom rein monetären Profit.

Wir brauchen mehr als monetären Profit. Wir brauchen auch eine positive ökologische und soziale Bilanz. Das ist für mich nicht verhandelbar, sondern die reine Lehre des Humanismus.

Einkommen, sagen Sie, hat mit Lebens­zufriedenheit nichts zu tun. Das kann aber nur jemand sagen, der viel hat.

Ja, da gebe ich Ihnen recht. Jemand, der viel hat, kann Ihnen ein Lied davon singen, mit wie viel Druck, Stress und Zeitmangel das einhergeht. Der Dalai Lama hat das schön auf den Punkt gebracht: „Der Mensch opfert seine Gesundheit, um Geld zu machen. Dann opfert er sein Geld, um seine Gesundheit wiederzuerlangen. Und dann ist er so ängstlich wegen der Zukunft, dass er die Gegenwart nicht genießt; das Resultat ist, dass er nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft lebt; er lebt, als würde er nie sterben, und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.“

Den sieben Todsünden stehen Ihnen zufolge aber auch sieben Tugenden gegenüber. Können diese sieben Tugenden die Welt retten?

Also zunächst einmal geht es mir nicht um die Frage der „Weltrettung“. Solche Begriffe polarisieren und schrecken eher ab, wenn wir uns konstruktiv über die Zukunft Gedanken machen. Die eigentliche Frage lautet doch: „Wie wollen wir in Zukunft leben, auf einem Planeten, den wir auf Sicht mit zehn Milliarden Menschen teilen?“ Ich trete für eine gerechte Politik der weisen Voraussicht ein, die mutig auch mal unpopuläre Entscheidungen wagt – und eine Wirtschaft, die das rechte Maß nicht aus den Augen verliert und nachhaltig plant. Diese Hoffnung sollten wir niemals aufgeben, wir sollten an das Gute glauben und unseren Mitmenschen gegenüber mit Liebe und Mitgefühl handeln. Ich denke, das kann heute jeder von uns unterschreiben. Damit hätten wir alle sieben Tugenden umgesetzt.

Über Sie wurde Folgendes geschrieben: „Bernd Kolb ist kein Gutmensch. Gott sei Dank. Er ist Unternehmer durch und durch. Für ihn ist die Rettung der Welt das größte Geschäftsmodell der Zukunft.“ Trifft diese Beschreibung zu?

Ja – wenn wir „die Rettung der Welt“ durch „eine kreative und positive Gestaltung unserer Zukunft“ ersetzen. Ich bin davon überzeugt, dass wir neuen Unternehmergeist brauchen. Probleme sind Märkte, Innovation ist auf allen Ebenen gefragt. Damit lässt sich gutes Geschäft machen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Sie haben eine abwechslungsreiche Vita, haben Millionen verdient, waren Internetpionier, erfolgreicher Unternehmer, Vorstand der Telekom. 2007 hängten Sie Ihre Karriere an den Nagel und begaben sich auf eine zweijährige Forschungsreise rund um die Welt. Warum?

Ich empfinde das nicht so, dass ich meine Karriere an den Nagel gehängt habe. Das hängt von der Begriffsdefinition ab. Wenn Karriere heutzutage bedeutet, dass man sein berufliches Streben ausschließlich finanziell bewertet, mag das stimmen. Aber Karriere kommt aus dem Lateinischen, „Carrus“, der Wagen, mit dem man fährt. Die Straße, auf der man das tut, die nenne ich Leben. Ich fühle mich heute als Autor, Fotograf und Berater persönlich wesentlich wohler mit dem, was ich tue. Das ist der Erfolg, an dem ich meine persönliche Karriere messe. Wenn ich mit diesen Lebenserfahrungen Führungskräfte coache, ist es genau das, was meinen Kunden hilft, wieder Sinn und Spaß an ihrer Arbeit zu finden. Das führt dann meistens zu ganz neuen Ideen, mit denen sich auch das Unternehmen langfristig den wirtschaftlichen Erfolg sichert. Es geht um Begeisterung, und die spüre ich förmlich, wenn ich Vorträge über das halte, was wir in diesem Interview diskutiert haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

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