Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir müssen zur Vernunft zurückkehren“

November 2020

David Stadelmann (38) Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, ruft angesichts des zweiten Lockdowns im Interview dringend dazu auf, einen sachlicheren Umgang mit Corona zu finden. Denn die Kollateralschäden seien mittlerweile massiv. In einer „doppelten Betroffenheitsschere“ zwischen den Jüngeren und den Älteren sieht der Ökonom ein gesellschaftliches Spaltungspotenzial: „Auch mit dieser Tatsache müssen wir entsprechend umgehen.“

Herr Professor Stadelmann, Sie rufen zu einem sachlicheren Umgang mit Corona auf ...
Corona ist immer weniger Krankheit und immer mehr Krise. Man muss zu breiteren Risikoabwägungen kommen und den Menschen mit all seinen Facetten in den Mittelpunkt stellen. Es geht ja nicht nur um Gesundheit, es geht auch um Arbeitsplätze, um die Sicherung der Pensionen, um die Sicherung des Sozialsystems usw. Die Kollateralschäden, die bereits verursacht worden sind und nun durch die neuen Maßnahmen weiter steigen, sind derart massiv, dass mittel- und längerfristig viel auf dem Spiel steht.

Sie sprechen von „breiteren Risikoabschätzungen“.
Ja. Breitere Abschätzungen wären möglich, weil die gesundheitlichen Risiken viel klarer geworden sind. Wir wissen jetzt, dass das Virus stark diskriminiert, in dem Sinne, dass die Alten gesundheitlich stark, die Jüngeren unter 40 dagegen kaum betroffen sind. Das ist die gesundheitliche Betroffenheitsschere. Dann gibt es noch die gesellschaftliche Betroffenheitsschere: Die Jüngeren werden längerfristig unter den Kosten dieser Krise leiden. Aus beidem resultiert eine doppelte Betroffenheitsschere, die enormes gesellschaftliches Spaltungspotenzial birgt.

Also ist die Politik gut beraten, einen Umgang zu finden, der mit und nicht gegen Corona leben und wirtschaften lässt?
Den Lockdown im Frühjahr sahen manche als eine Art „Reset“ und eine zweite Chance, das Virus zu kontrollieren. Doch das hat nicht funktioniert. Jetzt träumen sie von einem nochmaligen «Reset» und einer dritten Chance. Alle Hoffnungen werden auf eine noch in den Sternen stehenden Impfung gesetzt. Dabei ist unklar, wie effektiv eine solche Impfung die Hochrisikogruppe der 80-Jährigen überhaupt schützt. Daher werden wir lernen müssen, mit dem SARS-CoV2-Virus umzugehen. Und das hieße, den Jüngeren ein möglichst normales Leben zu ermöglichen, auf Gebote statt Verbote zu setzen und mit den knappen vorhandenen Ressourcen die wirklichen und identifizierbaren Risikogruppen gezielt zu schützen. Das ginge über Schleusenmodelle in Heimen und Krankenhäusern mit Antigen-Schnelltests, gratis FFP2-Masken für Ältere und bei Besuchen und dem Aufbau von Nachbarschaftshilfsprogrammen.

Ist der neue Lockdown aus Ihrer Sicht vertretbar?
Dass die Infektionszahlen im Winter ansteigen würden, war klar. Insofern ist das derzeitige Handeln der Regierungen befremdlich. Die Unternehmen, Tourismusbetriebe, etc. haben Präventionskonzepte vorgelegt und es kam zu wenigen nachgewiesenen Infektionen in diesen Bereichen. Ich vermute, dass die neuen Einschränkungen weniger gut funktionieren als im Frühjahr. Die Angst vor schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen ist in Teilen der Bevölkerung einer Angst vor den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen gewichen. Statt die Zeit in vergleichsweise sicheren gastronomischen Betrieben zu verbringen, dürfte sich Feiern nun noch mehr ins Private verlagern. Und ich befürchte leider, dass manche bei Erkrankungserscheinungen keine Testungen vornehmen – wer „schwarz“ festet, wird sich danach eher nicht testen lassen. Derartige Verhaltensanpassungen wären bei allen neuen Maßnahmen zu berücksichtigen.

Wenn man versucht, einen auch nur halbwegs realistischen Blick auf die Situation zu richten: Wie lange wird das denn noch so weitergehen?
Es gibt immer noch keine Langzeitstrategie der Regierungen. Ich würde das Gesundheitliche vom Wirtschaftlichen unterscheiden. Die Behandlungsmethoden haben sich verbessert und die Gefahr einer allfälligen Infektion ist für große Bevölkerungsgruppen kleiner als das Risiko, das sie sonst durch z.B. verschiedene Sportarten einzugehen bereit sind. Die wirtschaftlichen Konsequenzen werden uns in Europa noch lange beschäftigen. Wir hatten seit dem Weltkrieg noch nie einen so großen Einbruch der Wirtschaftsleistung. Wir wissen, dass die jüngste Finanzkrise, die ja nur rund halb so schlimm war wie die aktuelle Krise, uns rund acht bis zehn Jahre beschäftigt hat. Aus wirtschaftlicher Sicht stehen wir zudem erst am Anfang. Trotzdem haben wir innerhalb weniger Monate rund fünf Jahre Wachstum verloren, und der Aufholprozess ist ungewiss. Die Staatsdefizite steigen massiv an, und die Vergemeinschaftung von Schulden ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. An der aktuellen Krise dürfen wir uns nach meiner Einschätzung noch über zehn Jahre abarbeiten.

Es besteht auch die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems.
Ähnlich wie viele andere Krankheiten bedroht Corona spezifische Risikogruppen leider sehr stark. Die Bedrohung für die Gesellschaft insgesamt besteht tatsächlich in einer allfälligen Überlastung des Gesundheitswesens. Diese Bedrohung ist aber nicht nur Folge der Krankheit, sondern auch der Gesundheitspolitik. Wir tun derzeit so, als ob wir immer alle Leben retten könnten. Tatsächlich wurde und wird aber überall mit der Festlegung der Gesundheitsbudgets und der über Krankenversicherung zu finanzierenden Leistungen ganz selbstverständlich über die Überlebenschancen vieler Patienten entschieden. Insbesondere mit einem Lockdown werden medizinische Leistungen reduziert und verzögert erbracht, was auch mit Todesfolgen verbunden ist. Weil in Zukunft viel weniger Finanzmittel zur Verfügung stehen werden, kann ein Lockdown selbst wohl als eine der größten Triage-Entscheidungen gesehen werden – mit gefährlichen Folgen für die Volksgesundheit.

Vor Corona sagten bestimmte Gruppen, es brauche weniger Wachstum. Die dürften nun eines Besseren belehrt worden sein.
Wachstum war nie Selbstzweck. Wachstum ermöglicht höhere Einkommen, hohe Einkommen bringen Konsummöglichkeiten und materiellen Wohlstand. Aber selbst diese Feststellung ist noch viel zu eng. Um ein ordentliches Bildungs-, Gesundheits-, Altersvorsorge-, Sozialsystem und andere wertvolle Errungenschaften zu finanzieren und auszudehnen, braucht es Wachstum der Produktivität. Dank Wachstum und technischem Fortschritt ist die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten systematisch angestiegen. Im Übrigen sehe ich auch nicht, warum eine Erhöhung der Produktivität nicht auch für die nächsten hundert Jahre mit Natur und Umweltschutz kompatibel sein sollte. Vielmehr glaube ich, dass man sich in den nächsten Jahren das einstige Wachstum zurückwünschen dürfte, weil Wachstum eben mit vielem zusammenhängt, das uns Menschen in unserem Leben wichtig ist.

Sie haben dem Stab der Vorarlberger Wirtschaft auch Lösungsvorschläge skizziert ...
Für eine realistische Risikobeurteilung müssen die Bürger wissen, was die Risiken für Alte mit und ohne Vorbelastungen sind und welche Gefahren die verschiedenen Vorbelastungen bringen. Die Regierungen dürfen auch nicht nur auf rohe Todeszahlen starren, sondern müssen abschätzen, wie viel oder wie wenig Lebenszeit durch Corona verloren geht. Statt Staatsalmosen braucht es Steueranreize, denn erstere unterwandern zumeist die Leistungsanreize, während letztere den Geschädigten neben Entlastung auch bessere Leistungsanreize bringen. Ich bin durchaus optimistisch, dass wir alles wieder in den Griff bekommen. Aber eben nur, wenn wir rasch zu einer vernünftigen gesamtgesellschaftlichen Risikoabwägung kommen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

David Stadelmann * 1982, ist in Sibrats­gfäll aufgewachsen und hat nach dem Abschluss an der Handelsakademie in Bezau ein Masterstudium der Volkswirtschaftslehre und der Mathematik an der Université de Fribourg absolviert. 2010 folgte die Promotion zum Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Im Alter von 29 Jahren wurde Stadelmann von der Universität Bayreuth zum Professor für Volkswirtschaftslehre berufen.

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