Alfons Dür

* 1948 in Lauterach, Studium der Rechts­wissenschaften in Wien, Richter, von 1998 bis 2008 Präsident des Landesgerichtes Feldkirch. Forschungen zur NS-Justiz und zu Fragen der Rechts- und Justiz­geschichte Vorarlbergs.

Ausbruch aus Zelle 52

Juni 2022

In Vorarlberg hielten sie sich vorerst in Bludenz auf, wo sie sich als Ehepaar anmeldeten. Als ihnen hier das Geld ausging, verließen sie das Hotel heimlich, ohne die aufgelaufene Schuld zu bezahlen, und begaben sich nach Feldkirch, um hier die Reichsgrenze zu überschreiten“. Mit diesen Worten berichtete der Oberstaatsanwalt von Feldkirch am 3. August 1942 der Generalstaatsanwaltschaft in Innsbruck über die Festnahme eines Liebespaares, das am 22. Juni 1942 kurz vor Mitternacht an der Schweizer Grenze in Nofels entdeckt und in die Haftanstalt des Landgerichtes eingeliefert worden war.
Achtzehn Jahre waren Heinrich Heinen und Edith Meyer alt, als sie sich im Jahr 1938 in Köln kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Ihre Liebe war jedoch stets von Entdeckung und Strafe bedroht. Denn Edith Meyer galt nach den Rassengesetzen der Nationalsozialisten als „Volljüdin“ und diese verboten Liebesbeziehungen zwischen Deutschen und Juden. 
Vier Jahre konnten sich die beiden unentdeckt im Verborgenen treffen. 1941 aber brach die Katastrophe über sie herein. Edith wurde wie tausende andere Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei in den Osten deportiert. 
In Akten, die das Judenreferat der Gestapo Düsseldorf 1941 anlegte, heißt es, Heinrich Heinen habe zu Weihnachten 1941 vor Zeugen gesagt, wenn er wüsste, wo die Edith wäre, würde er sie aus dem Lager holen. Zu Ostern 1942 wusste er es: Edith war im Ghetto von Riga. Und Heinrich machte sein Vorhaben wahr. Es gelang ihm, in das mit Stacheldraht umzäunte und schwer bewachte Ghetto von Riga zu gelangen und Edith unter den 25.000 bis 30.000 dort zusammengepferchten Juden zu finden und mit ihr aus dem Ghetto zu fliehen. Von Riga fuhren sie mit einem Lastwagen nach Königsberg und dann mit dem Zug nach Berlin und Köln. Von dort flohen sie in Richtung Schweiz. Dort hätten sie heiraten wollen. Mehr als 3000 Kilometer legten sie auf ihrer Flucht quer durch Europa zurück, bis sie in Feldkirch entdeckt und festgenommen wurden. 
Die Staatsanwaltschaft Feldkirch erhob gegen Heinrich Heinen Anklage. Am 27. August 1942 wurde er wegen „Rassenschande“ zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. „Mit Rücksicht auf den langjährigen und oftmaligen Geschlechtsverkehr mit Edith Sarah Meyer ist der Tatbestand eines Verbrechens anzunehmen“, heißt es in der Urteilsbegründung. 
Gegen Edith Meyer wurde keine Anklage erhoben. In Bezug auf sie hielt der Oberstaatsanwalt in einem Aktenvermerk fest, dass sie „nach einer Mitteilung der Geheimen Staatspolizei in ein Konzentrationslager eingewiesen wird“.
Heinrich Heinen musste nach seiner Verurteilung damit rechnen, zur Strafverbüßung in das Zuchthaus von Bruchsal überstellt zu werden. Damit wäre er wohl endgültig von Edith getrennt worden. Mit dieser Perspektive wollte sich Heinrich Heinen jedoch nicht abfinden. Mit sechs weiteren Häftlingen, von denen drei ebenfalls erfolglos versucht hatten, in die Schweiz zu fliehen, befand er sich in Zelle 52 und sann nach Möglichkeiten, gemeinsam mit Edith aus dem Gefängnis zu fliehen.
Am Sonntag, 30. August 1942 gegen 17 Uhr, lockten sie die diensthabenden Wachebeamten in ihre Zelle, überwältigten diese und nahmen ihnen die Schlüssel ab. Etwa eineinhalb Stunden suchten sie dann von Zelle zu Zelle nach Edith Meyer. Vergeblich. Edith war am Tag davor, am Samstag, dem 29. August 1942, in das Polizeigefängnis nach Innsbruck überstellt worden. Von dort wurde sie am 9. Oktober 1942 um 7.30 Uhr in das Konzentrationslager Auschwitz verschickt. Seither fehlte jede Nachricht von ihr. Man muss annehmen, dass sie dort von der Rampe weg in die Gaskammer geschickt und ermordet wurde.
Als Heinrich Heinen und seine Mithäftlinge Edith Meyer nicht finden konnten, teilten sie sich in zwei Gruppen und flohen durch den Nachtausgang des Gefängnisses. Die erste Gruppe wurde nach kurzer Zeit im Raum Feldkirch wieder aufgegriffen. Die zweite Gruppe, bei der sich Heinrich Heinen befand, floh nach Hohenems. Dort wurden er und ein weiterer Mithäftling am 1. September 1942 bei einem Feuergefecht getötet. 
Den anderen Häftlingen wurde wegen der Beteiligung am Gefängnisausbruch der Prozess gemacht. Der 28 Jahre alte Tscheche Friedrich Frolik wurde zum Tode verurteilt und am 2. Juli 1943 in München-Stadelheim hingerichtet. Die anderen am Ausbruch beteiligten Häftlinge von Zelle 52 wurden mit Ausnahme eines aus der Schweiz stammenden Jugendlichen zu Gefängnisstrafen verurteilt, einer starb später in der Haft. Auf ihrer Flucht hatten Heinrich Heinen und Edith Meyer für ein paar Tage in Solingen bei Helene Krebs, einer Cousine von Edith Meyer, und ihrem Mann Paul Krebs Zuflucht gefunden. Dies wurde von einer Nachbarin der Gestapo Düsseldorf denunziert. Die Folge war, dass auch Helene Krebs, die ihr erstes Kind erwartete, in das Konzentrationslager Auschwitz eingewiesen wurde und dort nach wenigen Tagen starb.
An das Schicksal von Menschen, die wie Heinrich Heinen und Edith Meyer der nationalsozialistischen Diktatur zu entfliehen oder Widerstand zu leisten suchten und in Feldkirch in Haft waren, erinnert heute eine Gedenktafel, die der ehemalige Justizminister Dr. Wolfgang Brandstetter aus Anlass der hier geschilderten Tragödie von Heinrich Heinen und Edith Meyer im Landesgericht Feldkirch anbringen ließ.

Lesetipp 

Alfons Dür Unerhörter Mut
Haymon Verlag, Innsbruck

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