„Das Leben der Menschen gleicht einer fortgesetzten Reihe von Unfällen …“
Die Anfänge der Sozialversicherung in Österreich.
Der Schriftteller Franz Kafka war seit 1908 bei der Allgemeinen Unfallsversicherungsanstalt in Prag tätig. Dort war er für Arbeitsunfälle zuständig. Im Sommer 1909 schrieb er darüber an Max Brod: „Denn, was ich zu tun habe! In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen […] wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppen werfen.“
Ähnliches hätte er auch über Vorarlberg schreiben können, denn eine Folge der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker aufkommenden Industrialisierung war eine enorme Zunahme von Arbeitsunfällen. Die Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt in Salzburg, die für Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg zuständig war, schrieb denn auch 1899 im Rechenschaftsbericht über die ersten zehn Jahre ihres Bestandes: „Das Leben der Menschen gleicht einer fortgesetzten Reihe von Unfällen, welche allmählich zu dessen Ende führen.“
Arbeitsunfälle bekamen im Industriezeitalter eine neue Qualität. Lohnausfall und Verlust der Arbeit durch Unfall oder Krankheit wurden zu existenzbedrohenden Risiken. „In allen Ländern wird deshalb“, so heißt es in einem Standardwerk zur Geschichte der Sozialversicherung, „der Arbeitsunfall als ein nicht mehr dem persönlichen Schicksal allein zurechenbares, der individuellen Verantwortung oder gar persönlicher Vorsorge zugängliches Unglück erkannt, sondern als ein der Strukturveränderung der neuen Technologie innewohnendes soziales Risiko“. „Unfallverhütung“ und „Arbeiterschutz“ wurden nun europaweit zu dringlichsten Forderungen. Versorgungsmöglichkeiten, die früher Zünfte und Grundherrschaft boten, waren nicht mehr existent. Nunmehr musste der „sorgende Staat“ diese Lücke schließen.
1883 wurden in Österreich Gewerbeinspektoren geschaffen, die Vorläufer der Arbeitsinspektorate. Die Gewerbenovelle 1885 brachte wichtige Neuerungen: die Bestimmungen über die Sonntags- und Feiertagsruhe wurden verbessert, die zulässige Arbeitszeit in manchen Bereichen herabgesetzt, die Nachtarbeit von Frauen, Kindern und Jugendlichen beschränkt. Ihren Höhepunkt erreichte die Arbeiterschutzbewegung aber mit der Einführung der obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung der Arbeiter.
Mit dem Gesetz vom 28. Dezember 1887, „betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter“, RGBl. 1888, Nr.1 (UVG), und dem Gesetz vom 30. März 1888, „betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“, RGBl. 1888, Nr. 33 (KVG) traten am 1. November 1889 erstmals Pflichtversicherungen für Arbeiter in Kraft, die zumindest für einen kleinen Teil der arbeitenden Bevölkerung eine Absicherung bei Krankheit und Unfall boten. 1894 wurde der Anwendungsbereich dieser Gesetze erweitert. Aber erst in den folgenden Jahrzehnten wurden allmählich alle Arbeitnehmer in diese Pflichtversicherungen einbezogen.
Schon vor der Einführung dieser Pflichtversicherungen hatte es auf der Grundlage gewerbe- und vereinsrechtlicher Bestimmungen Betriebskrankenkassen gegeben. Im Jahr 1890 gab es im Sprengel der AUVA Salzburg insgesamt 426 Krankenkassen, in Vorarlberg waren es mehr als 60. Diese Betriebskrankenkassen gewährten meist auch einen Schutz bei Arbeitsunfällen, doch waren ihre Leistungen zeitlich begrenzt.
Die obligatorische Unfallversicherung erfasste nur etwa ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung. Die Versicherung erstreckte sich nämlich nur auf gefährliche Arbeiten. In der Anfangszeit waren im Wesentlichen nur die Fabriksbetriebe, Steinbrüche, das Baugewerbe sowie die unter Verwendung von Kraftmaschinen betriebenen Gewerbe von der Versicherung umfasst. Um 1890 waren im Zuständigkeitsbereich der AUVA Salzburg von 1.821000 Bewohnern nur etwa 150.000, davon mehr als 50.000 nur auf wenige Tage oder Stunden, versichert. Versicherungsschutz bestand nur während der Verrichtung gefährlicher, unfallträchtiger Arbeiten, nicht der gesamten Arbeitszeit. Arbeiter und Taglöhner kamen auf diese Weise oft zu Versicherungszeiten von nur wenigen Tagen und Stunden.
In der Anfangszeit der Unfallsversicherung war die Frage der „Werkstättenversicherung“ höchst umstritten. Dabei ging es um die Frage, ob Tätigkeiten in der Werkstatt in gleicher Weise versichert sein sollten wie jene auf Baustellen. Das Gesetz bot verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Tatsächlich war es so, dass Arbeiter nur bei Unfällen auf einer Baustelle eine Entschädigung erhielten, nicht jedoch an ihrem ständigen Werkplatz. Franz Kafka setzte sich für eine umfassende, auch die Werkstätten einschließende Interpretation des Unfallversicherungsgesetzes ein. Diese Auffassung setzte sich letztlich durch.
Für die Berechnung der Versicherungsbeiträge wurden die Unternehmen in über 500 „Berufstitel“ eingereiht, die wiederum – je nach Unfallgefährlichkeit– in zwölf Gefahrenklassen eingeteilt wurden. Innerhalb der Gefahrenklassen erfolgte eine weitere Einstufung nach Gefahrenprozentsätzen, die statistisch ermittelt wurden. Neben diesem Gefahrenschema waren die Lohnsummen der jeweiligen Betriebe für die Höhe der Versicherungsbeiträge entscheidend. Um falsche Angaben auszuschließen und eine Überprüfung zu ermöglichen, wurden die Unternehmen im Jahr 1909 durch das „Lohnlistenzwangsgesetz“ verpflichtet, „Aufschreibungen“ über die zur Ermittlung der für die Versicherung anrechenbaren Bezüge zu machen und diese fünf Jahre aufzubewahren.
Die Versicherungsbeiträge mussten zu 10 Prozent vom Versicherten und zu 90 Prozent vom Unternehmer aufgebracht und gesamthaft vom Unternehmer an die AUVA abgeführt werden. Je höher die Gefahrenklasse und der Gefahrenprozentsatz waren, desto höher war der zu leistende Versicherungsbeitrag. Gegen die Einstufung konnte Einspruch erhoben werden, was häufig geschah, da die Aufbringung der Versicherungsbeiträge vielen Familien- und Gewerbebetrieben Schwierigkeiten bereitete und die Berechnung oft auf Widerstand und Ablehnung stieß.
Jacob Zuderell aus Schruns führte beispielsweise 1891 in einer Eingabe an das k.k. Ministerium des Innern aus, die Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Salzburg habe ihn für den Betrieb einer einfachen Brettersäge zu einer viel zu hohen Beitragsleistung von 3.34 Gulden verpflichtet und ihn in die Gefahrenklasse 10, Prozentsatz 59, eingereiht. Diese Einreihung sei im Vergleich zu der für den Arbeiter vorhandenen Gefahr viel zu hoch, da seine Säge an der Kurbelscheibe am Wallbaum des Wasserrades angebracht sei und „keine Riemen und Kammräder“ laufen würden. Die „großen Etablissements, wie zum Beispiel Spinnereien, wo Sääle voll Maschinen laufen und jeder unbeachtete Schritt den Arbeitern Schaden bringen kann“, würden viel niedriger eingestuft, obwohl dort die Gefahr viel größer sei.
Zehn Jahre nach Einführung der Unfallversicherung konnte die AUVA Salzburg für ihren Zuständigkeitsbereich stolz Bilanz ziehen: „Mehr als 18.000 Menschen sind während des abgelaufenen Dezenniums bei versicherter Arbeit verunglückt, 627 haben hierbei ihren Tod gefunden, 311 Witwen, 553 Kinder und 32 betagte Eltern beweinten den Verlust ihres Ernährers, mehr als 2700 sind zeitlebens unfähig geworden, durch ihrer Hände Arbeit in gewohnter Weise den Unterhalt zu schaffen; dank diesem Gesetze sind sie vor Not und Elend, vor dem traurigen Schicksale des Bettlers bewahrt.“
Neben der finanziellen Absicherung der Unfallopfer wurden nun Prävention und Unfallverhütung zu wichtigen Zielen staatlichen Handelns. Auch Franz Kafka beschäftigte sich damit. Er verfasste mehrere Beiträge zum Thema Unfallverhütung und nahm 1913 am II. Internationalen Kongress für Rettungswesen und Unfallverhütung in Wien teil.
Auch wenn viele Regelungen der Unfallsversicherung in der Anfangszeit kompliziert und zeitbedingt waren, so veränderten sie nicht nur das Selbstverständnis des Staates, sondern auch die Lebensbedingungen der Menschen. Innert weniger Jahrzehnte bot der „sorgende Staat“ den Menschen eine neue Perspektive sozialer Sicherheit, eine Perspektive, die auch heute zu den notwendigen und unverzichtbaren Gegebenheiten unseres Lebens zählt.
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