Alfons Dür

* 1948 in Lauterach, Studium der Rechts­wissenschaften in Wien, Richter, von 1998 bis 2008 Präsident des Landesgerichtes Feldkirch. Forschungen zur NS-Justiz und zu Fragen der Rechts- und Justiz­geschichte Vorarlbergs.

Unter Holzkohle versteckt

September 2023

Juden aus der Slowakei fliehen 1942/43 in Güterzügen über Vorarlberg in die Schweiz.

Im März 1939 besetzte Hitler unter Bruch des Münchner Abkommens völkerrechtswidrig die „Rest-Tschechei“ und machte die neu entstandene Slowakei durch „Schutzverträge“ zum deutschen Vasallenstaat. Die Slowakei übernahm die Rassenideologie des Nationalsozialismus. Zwischen März und Oktober 1942 wurden 57.700 slowakische Juden in die Vernichtungslager Sobibor, Majdanek und Auschwitz deportiert. Nur etwa 300 überlebten. In dieser Situation suchten viele Juden nach Möglichkeiten einer Flucht ins Ausland. Eine solche Möglichkeit bot sich in Verstecken von Güterzügen, die Waren – vor allem Holz und Holzkohle – aus der Slowakei in die Schweiz transportierten. 
Einer der ersten slowakischen Juden, dem auf diese Weise die Flucht in die Schweiz gelang, war der 23-jährige Martin Spitzer. Er versteckte sich in einem etwa 1,3 Meter hohen Hohlraum in einem mit Tannenbrettern beladenen und für die Firma Stürm in Goldach bestimmten Güterwaggon und gelangte am 19. Mai 1942 nach elf Tagen Fahrt in der „Gegend von Buchs“, wie es im Bericht der Kantonspolizei St. Gallen heißt, in die Schweiz. „Das Ärgste auf der ganzen Fahrt waren zwei Tage Regenwetter. Alles war durch und durch nass“, schrieb er in einem 1995 veröffentlichten Bericht über sein Leben. Spitzers Flucht wurde den deutschen Behörden bekannt und führte zu strengeren Kontrollen der für die Schweiz bestimmten Güterzüge. Schon drei Wochen nach Spitzers erfolgreicher Flucht wurden am Zollbahnhof in Lustenau zwei Juden aus der Slowakei in einem, wie die Gestapo schrieb, „mit deutschem Bahnblei plombierten Güterwagen, der von Pressburg (Bratislava) kam und für die Schweiz bestimmt war“, entdeckt. Arthur Wohl, einer der beiden Flüchtlinge, kam von Lustenau über Wien nach Maly Trostinec (Belarus) und wurde zwei Monate nach seiner Entdeckung dort ermordet. Auch Alexius Berkovits, der zweite in Lustenau festgenommene Flüchtling, dürfte dieses Schicksal erlitten haben.
Gegen Jahresende 1942 und zu Beginn des Jahres 1943 kam es zu einer organisierten Fluchtbewegung von Juden aus der Nordslowakei, die von Medzilaborze, einer Kleinstadt in der Nordslowakei, ausging. Medzilaborze liegt am Fuße des Karpatenhauptkammes im Grenzgebiet der Slowakei zu Polen und der Ukraine. Etwa 80 aus dieser Gegend stammende Juden versuchten in dieser Zeit in Güterzügen in die Schweiz zu gelangen. 31 gelang die Flucht. Ihre Berichte sind im Schweizer Bundesarchiv in Bern erhalten. Die anderen wurden in Feldkirch entdeckt und von dort in Konzentrations- und Vernichtungslager verbracht, wo die meisten ermordet wurden oder ums Leben kamen.
Am 7. Januar 1943 wurden am Bahnhof Feldkirch 14 jüdische Flüchtlinge entdeckt, die sich am 30. Dezember 1942 in der Gegend von Medzilaborce in mit Holzkohle beladenen Güterwaggons versteckt hatten. Über ihre Entdeckung und Festnahme in Feldkirch berichtet die „Chronik des Hauptzollamtes Feldkirch“:
Es ist der 7. Januar 1943. Zeit: gegen 9.30 Uhr morgens. Eben ist der Güterzug G 6192 mit unverletzten Zoll- und Bahnverschlüssen aus der Slowakei in Feldkirch eingelaufen. Die Kontrollbeamten beginnen in der vorgeschriebenen Ordnung mit der Durchsuchung der durchwegs mit Holzkohle beladenen und nach der Schweiz bestimmten Waggons. Die Kontrolle geht wie immer flott, aber mit größter Gründlichkeit vor sich. Beim Versuch, den Wagen S Z 17068 zu öffnen, werden die Beamten stutzig. Die Schiebetüre klemmt. Erst durch ein unter sie angesetztes Hebeeisen kann sie ausgehoben und geöffnet werden. Sofort fällt aus dem Wagen eine Menge Holzkohle heraus. Ein Blick ins Wageninnere zeigt, dass die Kohle gegen alle Gewohnheit seitlich weit über die Vorlagebretter hinauf hochgeschaufelt ist und dass der Wagen ohne die üblichen Ladelucken bis zur Decke beladen ist. Noch aber ist ein Vordringen in den Wagen nicht möglich. Es muss erst noch ein Loch in den Kohlenberg gegraben werden. Diese Tatsache ist verdächtig. Bei den Ausräumarbeiten wird Papier, ein Apfel und schließlich sogar Menschenkot gefunden. Jetzt wird der ursprüngliche Verdacht, dass Menschen in dem Wagen verborgen sind, fast zur Gewissheit. Eifrig arbeiten die Männer weiter, darauf gefasst, jeden Augenblick auf Menschen zu stossen. Da wird plötzlich auf der anderen Längsseite eine Lüftungsklappe aufgerissen, ein Mensch springt durch sie aus dem Wagen und flüchtet über die Geleise. Gleich wird der Laden von innen geschlossen. Zwei Arme werden dabei für kurze Zeit sichtbar.
Jetzt ist alles klar. Zuerst einmal gilt es den Flüchtling festzunehmen. Ein mit der Überwachung des Zuges beauftragter Zollsekretär verfolgt ihn etwa 500 Meter weit, nimmt ihn fest und bringt ihn ins Verschublokal. Unterdessen graben sich die übrigen Beamten gegen die Stirnwand des Wagens vor und entdecken dort ein Loch, das bis fast auf den Boden des Wagens reicht. In diesem finden sie vier Flüchtlinge. Durch Entfernen weiterer Kohle schaffen sie einen Ausgang, dann fordern sie die Gefundenen auf, den Wagen zu verlassen. Diese sträuben sich jedoch, werden aber bald mit vorgehaltener Pistole zum Herauskriechen gezwungen. Die Flüchtlinge sind mit Kohlenstaub ganz schwarz im Gesicht und sehr dreckig, scheinen aber in guter körperlicher Verfassung zu sein. 
Die Besichtigung des Verstecks zeigt, dass der freigelegte Raum eine Bodenfläche von etwa fünf Quadratmeter hat, und dass das Innere des Unterschlupfes sehr gut ausgestattet ist. Es ist wohl ausgerüstet mit Federbetten, Steppdecken, Wolldecken, Kopfkissen und Säcken. Darin liegen die Männer ohne Schuhe. Bei der weiteren Durchsuchung des Wagens finden die Beamten ein grosses Proviantlager, das mindestens 30 Laib Brot, sieben Flaschen Schnaps, vier lange Würste, dazu Selchfleisch, Sardinen, Rum, Zigaretten, Bonbons und einen grossen Glasballon mit Wasser enthält, Es sind Lebensmittel und Getränke für noch acht Tage. Inzwischen haben sich die Flüchtlinge, von denen sich herausstellt, dass sie alle Juden sind, nach anfänglicher grosser Niedergeschlagenheit in ihr Geschick ergeben. Sie sehen abenteuerlich genug aus. Die Gesichter haben sie zum Schutz gegen Frost und Kälte mit Schals verbunden, sodass die Augen und die – schmutzige – Nase herausschauen. Sie tragen viele Kleider am Leib; 5-6 Hosen und 3-4 Pullover. Auf die Frage, ob noch weitere Männer in den Wagen versteckt sind, verneinen sie und versichern: nur wir fünf. Die Beamten verlassen sich auf diese Aussage natürlich nicht und durchsuchen auch die übrigen Wagen. Dabei entdecken sie in einem von ihnen noch drei Männer und ein 17 jähriges Mädel. Alles Juden. Auch sie sind genau so gut ausgestattet und verproviantiert wie die ersten, sehen genau so dreckig aus und sind ebenso erschrocken. Das Mädel fragt mit erhobenen Händen voller Angst: „Was geschieht mit uns?“ Auf die Frage, warum er geflüchtet sei, erklärt ein Jude: „Weil ich wollte Leben retten.“ Bei der näheren Vernehmung erklären die Juden, dass sie am 30. Dezember 1942 in der Station Radwei in der Slowakei in die Wagen eingestiegen sind, um sich dem Abtransport in ein Arbeitslager zu entziehen. Das Versteck hatten sie dadurch geschaffen, dass sie die Holzkohle von der Stirnwand gegen die Wagenmitte schaufelten.
Die Namen dieser Menschen sind im Gefangenenbuch des Landgerichtes, wie das Landesgericht Feldkirch damals hieß, vermerkt. Dort steht auch, dass sie am 15. Januar 1943 mit einem Sammeltransport nach Wien verbracht wurden. Von dort wurden sie nach Auschwitz deportiert.
Über den „Aufgriff“ der 14 aus der Slowakei gekommenen Flüchtlinge wurden der Leiter des Grenzpolizeikommissariates der Geheimen Staatspolizei in Bregenz, der Landrat von Feldkirch, die Staatsanwaltschaft Feldkirch, die Generalstaatsanwaltschaft in Innsbruck, der Reichsminister der Justiz, der Reichsverkehrsminister, der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei sowie das Auswärtige Amt in Berlin verständigt. 
Die Festnahme dieser Flüchtlinge führte nicht nur zu verstärkten Kon­trollen der Züge durch die Bahnpolizei, sondern auch zu Nachforschungen in der Slowakei über „Helfer“ und „Versender“. Am 28. Februar 1944 berichtete der slowakische Sicherheitsdienst über das Ergebnis dieser Nachforschungen, die zu zahlreichen Festnahmen von Freunden, Verwandten und Helfern der Flüchtlinge und zu deren Einweisung in Arbeits- und Konzentrationslager in der Slowakei geführt haben. Wie viele Opfer diese Nachforschungen aufseiten der Helfer zur Folge hatten, lässt sich nicht feststellen.
Aus Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin geht hervor, dass nicht nur am 7. Januar 1943, sondern auch am 22. Dezember 1942, am 14., 15., 18. und 24. Januar sowie am 18. Februar 1943 Juden aus der Gegend von Medzilaborce in Feldkirch in Holzkohlewaggons entdeckt und festgenommen wurden. 
Unter den am 14. Januar 1943 entdeckten Flüchtlingen befand sich die 31 Jahre alte Cilli Herskovic. Sie wollte ihrem Bruder Herman nachfolgen, dem es in einem früheren Güterzug gelungen war, in die Schweiz zu gelangen. Herman Herskovic gab den Schweizer Behörden gegenüber an, sich mehrere Monate im Haus seiner Schwester in Medzilaborce versteckt zu haben. Dieses Versteck „befand sich zwischen der Zimmerdecke und Dachboden und hatte eine Höhe von 60 Zentimeter. In diesem konnte ich mich nur liegend aufhalten. […] Da in der Woche mehrmals Hausdurchsuchung gemacht wurde, getraute ich mich nie aus demselben heraus.“ Als seine Schwester nicht in der Schweiz eintraf, erkundigte sich Hermann beim Schweizerischen Fürsorgedienst für Ausgewanderte in Genf „ob sie gesund und heil in der Schweiz angekommen“ sei. Er erhielt eine negative Auskunft und hat wahrscheinlich nie erfahren, dass die Flucht seiner Schwester nahe der Grenze zur Schweiz in Feldkirch gescheitert ist.
Wie dramatisch die Situation für die Juden in der Slowakei zu dieser Zeit gewesen sein muss, lässt sich aus der Tatsache erahnen, dass in der Zeit vom 22. Dezember 1942 bis 18. Februar 1943 in Feldkirch insgesamt 51 jüdische Flüchtlinge aus der Nordslowakei, unter Holzkohle versteckt, entdeckt und festgenommen wurden. Allein am 15. Januar 1943 wurden innert weniger Stunden – um zwölf Uhr, um 15 Uhr und um Mitternacht – drei Gruppen slowakischer Juden in die Gefängnisse von Feldkirch und Bregenz eingeliefert. 
Unterlagen und Akten zum Schicksal all dieser Menschen sind nicht vorhanden. Lediglich ihre Namen sind in den Gefangenenbüchern und in Listen über den Weitertransport vermerkt. Sie alle wurden von Feldkirch oder Bregenz nach Wien überstellt und von dort in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Man muss annehmen, dass von den 51 Personen, die zwischen 22. Dezember 1942 und 18. Februar 1943 in Feldkirch festgenommen wurden, nur zwei überlebt haben.

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