Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Der Bodensee – eine große Badewanne?

April 2021

Die „Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung“ sind eine der traditionsreichsten regionalen Zeitschriften im Bestand der Vorarlberger Landesbibliothek, die schon seit 1869 erscheint und mit einigen Namensänderungen bis heute veröffentlicht wird. Mit ihr lassen sich historische, aber auch naturwissenschaftliche Themen trefflich nachverfolgen, die schon längst in Vergessenheit geraten sind. So schreibt dort 1893 der Schweizer Naturforscher und Begründer der Limnologie, François-Alphonse Forel (1841-1912), über ein Phänomen am Bodensee, das der Wissenschaft lange Zeit ein Rätsel blieb. 
Forel beschäftigte sich ein Leben lang mit Wasserstandsschwankungen am Genfersee, die nicht mit verändertem Zu- oder Abfluss erklärt werden konnten, versuchte später die dort gewonnenen Erkenntnisse auch auf den Bodensee anzuwenden und besuchte zu diesem Zweck Bregenz: „Das Wetter war prachtvoll, als ich am 14. September 1874 um 10 Uhr Vormittags meine Einrichtungen zu der Beobachtung am Ufer des Bodan hinter dem Bregenzer Bahnhof traf. Während der vorhergehenden Tage hatte im Rheintal der Föhn geweht, nun aber war bei wolkenlosem Himmel, wie er an jenem Tage über dem schönen Bodensee strahlte, vollkommene Windstille, bis um 2 Uhr Nachmittags ein heftiger Ost-Wind losbrach. Die äusseren Bedingungen für schöne Seeschwankungen waren also ausgezeichnete, und in der That zeigte mir mein Plemyrameter [Anm. des Verfassers: Gerät zur Messung von Wasserständen] bald große und schöne Oscillationen ohne irgendwelche Verwirrung.“
Für die Schwankungen hat sich in Ermangelung eines passenden deutschen Wortes der französische Begriff Seiches (sprich: Sääsch) durchgesetzt, der freie Schwingungen von Wassermassen in ganz oder teilweise abgeschlossenen Becken in Form von stehenden Wellen meint, die unabhängig vom Rhythmus der Gezeiten sind. Unwissenschaftlich ausgedrückt schwappt das Wasser eines Sees wie in einer Badewanne hin und her, in der Länge, in der Breite, meist ausgelöst durch starke Winde oder rasche Luftdruckänderungen. 
An allen größeren Binnengewässern kann das Phänomen beobachtet werden, so auch am amerikanischen Eriesee, der aufgrund seiner Form zu extremen Seiches neigt. Zuletzt am 15./16. November 2020 erhöhte sich der Wasserspiegel im Osten bei Buffalo um zwei Meter, in Toledo im Westen hingegen senkte sich das Wasser um den gleichen Betrag, während in der Mitte bei Cleveland der Pegel stabil blieb. Mit den größten Amplituden in Europa kann aufgrund seiner Form der Genfersee aufwarten, wo Schwankungen von über einem Meter beobachtet wurden. Im Bodensee sind diese um einiges kleiner, sodass die plötzliche Pegeländerung von einer Elle (59 Zentimeter), schon als Wasserwunder von Konstanz in die Annalen ging.
Der Chronist der Stadt beschreibt das Ereignis vom 23. Februar 1549, das die Bevölkerung der Stadt in großes Staunen versetzte: „Uff diesen Tag, was Sant Mathyss abend, morgens früeh, ist der See an und abgeloffen, wol einer Ellen hoch. Die Wie ich selbst gesehen hab ist sölchs etwa in einer stund vier oder fünf mal geschehen“. Der Chronist beschreibt damit die Schwingungsdauer des Wassers im Konstanzer Trichter, die im 20. Jahrhundert mit 15 Minuten bestätigt werden konnte. Eine Elle hoch hob und senkte sich also der Seespiegel damals am Konstanzer Ufer, was noch weit den Rhein hinab seine Wirkung zeigte: „Im Reyn wollen büren oder heben, die habend befunden dass der Rheyn uffwerts dis tags gegen der Statt und Rhynprugk geloffen, wie er sonst hinab louft.“ Der Rhein floss also sozusagen flussaufwärts zurück in den Bodensee – was den damaligen Zeitgenossen als ein echtes Wunder erscheinen musste, zumal keinerlei Einfluss von Wind und Wetter erkennbar war: „Und so ist er [Anm. des Verfassers: der Bodensee] klain geworden, so ist er bald mit ainem Ruschen, als ob das gewell von dem wind (welcher doch nit was) getrieben würd, wieder angeloffen.“
Für das „Wasserwunder“ von Konstanz gibt es verschiedene Erklärungen. Die plausibelste führt die große Pegelschwankung auf die zufällige Überlagerung von Schwingungen zurück. Während der Bodensee als Ganzes einen Rhythmus von 56 Minuten aufweist, gibt es im Konstanzer Trichter eine lokale Schwingung von 13 bis 14 Minuten. Wenn sich mehrere Schwingungen aufaddieren, kann es zu so einem denkwürdigen Ereignis wie 1549 kommen. In einem anderen Artikel über das Wasserwunder wird hingegen vermutet, dass auch eine für die Konstanzer unsichtbare Wasserhose die Wassermassen in Bewegung versetzt haben könnte.
Für Bregenz kann jedenfalls Entwarnung gegeben werden: Tsunamiartige Ereignisse sind nicht zu erwarten, da die größte jemals aufgetretene Seiche lediglich 36 Zentimeter betrug. Gemessen wurde sie am 20. Juli 1935, als eine kräftige Gewitterfront den Bodensee überquerte.
Normalerweise sind am Obersee die Seiches kaum sichtbar, da sie von Wellengang und Wasserstandsänderungen, die auf andere Einflüsse zurückzuführen sind, überlagert werden. Zwischen 1931 und 1939 wurde regelmäßig gemessen und die durchschnittliche tägliche Schwankung in Bregenz betrug lediglich 1,53 Zentimeter.
Man könnte nicht besser enden als mit Forel: „Damit schließen wir. Das Gesagte wird, wie wir hoffen, genügen, um die Schönheit des Phänomens der Schwankungen im Bodensee darzulegen und vielleicht die Aufmerksamkeit eines Forschers (…) auf diesen hochmerkwürdigen Gegenstand hinzulenken.“

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