Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Der strohblonde Junge und die junge Ärztin in der Kinderklinik

Februar 2021

Wie bis vor wenigen Jahren üblich, standen die schweren Rosse angebunden im Stall und ruhten, ohne sich niederzulegen, als der kleine, strohblonde Junge mit elf Jahren den Stall betrat und ohne Vorwarnung von einem der Pferde, das wohl erschrak, wieder zur Tür hinausbefördert wurde. Die schweren Norikerpferde hatten ebenso schwere Hufeisen mit Eisenstollen, damit sie bei der Holzarbeit guten Halt finden konnten. Die Folge dieses Pferdetrittes für den Jungen war eine zertrümmerte Hüfte und starke Einblutungen in das umliegende Gewebe. Im Jahre 1938 sah die Medizin im Lande keine Möglichkeit einer operativen Versorgung, und so sollte der Junge der Macht des Schicksals überlassen werden. Seine Eltern bewirtschafteten einen größeren Bauernhof mit angeschlossener Säge, weshalb auch Pferde gehalten wurden. Sie entschieden sich, ihr Kind ins nahe Deutschland, nach Scheidegg, in eine Kinderklinik zu bringen. Scheidegg war damals schon ein Kurort, und in der Prinzregent-Luitpold-Kinderklinik wurden vorwiegend Kinder mit tuberkulösen Erkrankungen behandelt. Da auch der dort behandelnde Oberarzt dem schwer verletzten Jungen wenig Überlebenschancen zuerkannte, wurde er in jenen Trakt des Krankenhauses verlegt, der für die Kinder ohne Hoffnung vorgesehen war.
Als dem Jungen das bewusst geworden sei, habe er zu „kämpfen“ begonnen, wie es eine junge Ärztin „noch nie erlebt“ hatte. Immer wieder seien abgestoßene, eitrige Knochenteile aus dem Körper ausgetreten, zwei lebensbedrohende Embolien habe er überlebt. Deshalb habe sich die junge Ärztin des Jungen und seines Kampfes angenommen und alles unternommen, ihn diesen Kampf auf Leben und Tod gewinnen zu lassen. Und er hatte ihn, nach fast zehn Jahren im Bett, gewonnen, auch wenn eine Gehbehinderung zurückblieb, die ihn aber nicht davon abhielt, sportlich aktiv zu sein. Schifahren wurde trotz der Einschränkung seine bevorzugte Sportart. Auch die Liebe zu den Pferden und der Land- und Alpwirtschaft ließ er sich nicht nehmen und blieb ihr treu. Dass dies alles möglich war, habe er einer jungen Ärztin in der Kinderklinik Scheidegg zu verdanken, die ihn gerettet habe, so erzählte er mehrmals in knappen, aber anerkennenden Sätzen. 
Im April 1940 war die Tötungsmaschinerie der nationalsozialistischen „Euthanasie“, in der auch tausende Kinder mit einer Behinderung ermordet wurden, längst im Gange, und neben der gezielten Ermordung starben viele von ihnen an einer Nichtbehandlung. Dieses Schicksal wäre wohl auch dem Jungen aus dem Bregenzerwald nicht erspart geblieben – wäre da nicht diese junge Ärztin aus Hamburg in die christlich organisierte Kinderklinik ins nahe Allgäu gewechselt, weil sie in der Hamburger Kinderklinik Rothenburgsort, die sie als „Sauladen“ bezeichnet habe, und wegen der „dort vorherrschenden forschen nationalsozialistischen Mentalität“ unglücklich war. Tatsächlich wurde dort die Kinder-„Euthanasie“ betrieben und nach dem Krieg auch vor Gericht verhandelt. 
Dr. Isabel Hahn, so hieß die junge Ärztin, war in der entscheidenden Zeit für den Jungen eineinhalb Jahre lang Ärztin in Scheidegg. Sie rettete ihm das Leben, auch wenn die Leistungen der anderen Krankenhausmitarbeiterinnen damit nicht geschmälert werden sollen. Isabel Hahn war keine Ärztin im Widerstand – die gab es fast nicht – aber ihre moralische Auffassung als Ärztin war mit jener der nationalsozialistischen Auffassung vom „Gnadentod“ nicht kompatibel. So sei sie in der christlich geführten Kinderklinik in Scheidegg wieder aufgelebt, obwohl sie damit weit weg von ihrem Verlobten in Hamburg Dienst tat. 
Der Junge, der dank Isabel Hahn überlebte, war wegen seiner körperlichen Behinderung für eine körperliche Mitarbeit in der Landwirtschaft und im Sägewerk nicht zu gebrauchen, und so kümmerte er sich dafür um die Versorgung der Angestellten am Hof und im Sägewerk – und entdeckte damit sein Talent und seine Leidenschaft für Lebensmittel, aber auch für den Einkauf und das Verhandeln mit regionalen Anbietern. Mit 24 Jahren gründete er 1952 einen Hofladen beim Sägewerk, in dem zwar für Kunden kein Platz war – die Waren wurden über ein Fenster gereicht – aber für eine Vision: einen eigenen Lebensmittelmarkt. 
Und so hart er um sein Leben kämpfen musste, so hart hatte er an dieser Vision gekämpft – und wieder gewonnen. Bis zu seinem Ausscheiden aus seinem Unternehmen gründete er in ganz Vorarlberg sieben Lebensmittelmärkte und schuf viele langjährige Partnerschaften mit regionalen Anbietern, die zum Teil bis heute fortdauern und sich bewähren. Ulrich Sutterlüty starb am 24. September 2001 mit 74 Jahren. Zu seinem 70. Geburtstag machte Ulrichs Sohn Jürgen die Ärztin Dr. Isabel Hahn, verheiratete Dr. Neumann, ausfindig und ließ die damals 84-Jährige kurzerhand einfliegen, ohne dass sein Vater davon wusste. 
Angesichts von 500 anwesenden Gästen habe Ulrich Sutterlüty vollkommen die Fassung verloren, habe ihre Hand gehalten, sie umarmt und minutenlang kein Wort sagen können. Niemals zuvor und nie mehr danach habe der Sohn seinen Vater so erlebt, der Zeit seines Lebens zu sich selber hart war und nie über sein Gebrechen oder seine Zeit nach dem Unfall viel redete. Frau Dr. Isabel Neumann durfte dann noch ein paar wunderschöne Tage im Haus der Familie ihres ehemaligen Schützlings verbringen und späte, aber tiefste Wertschätzung erfahren. 
Isabel Neumann verstarb mit 88 Jahren, im selben Jahr, wie der einst strohblonde Junge, dem sie das Leben rettete. Ihrem Beruf blieb sie bis zu ihrer Pensionierung mit dem gleichen Eifer treu wie dem hippokratischen Eid der Ärzte.

Kommentare

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Berührend
Hat mich total berührt
Das ist wirklich eine unglaubliche Geschichte die unter die Haut geht.