Manfred Hämmerle

Direktor der BHAK und BHAS Bregenz und seit 30 Jahren in der Ausbildung für Lehr­personen, unter anderem an der WU Wien, tätig

Wenn schon ein Eid, dann für alle Beteiligten …

Februar 2023

Klaus Zierer schlägt in der Ausgabe Dezember 2022 / Jänner 2023 von „Thema Vorarlberg“ eine Erneuerung des „Sokratischen Eides“ für Lehrpersonen vor. Er begründet dies unter anderem mit den „Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“, die „weltweit das Wohl der Kinder“ beeinträchtigt hätten. Auch die „Digitalisierung der Bildung“ sieht er kritisch, weil sie nicht den erwarteten Erfolg, vielleicht sogar das Gegenteil, bringe. Schließlich habe die empirische Forschung die Bedeutung der Haltung der Lehrpersonen dargelegt. Es ist erfreulich, dass Zierer die Wichtigkeit der Lehrpersonen für das Lernen betont. Allerdings braucht es aus Sicht der „Praxis“ dringend Ergänzungen.
Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (inklusive Schulschließungen und Distance Learning) nicht von Lehrpersonen oder Schulen, sondern von den übergeordneten Behörden entschieden wurden. Sie sind zwar aus der damaligen Sicht verständlich, allerdings dürften die Auswirkungen tatsächlich massiv sein. Darauf weist die tägliche Schulpraxis hin. Die Erfahrung zeigt, dass die Schließung der Schulen nur die letzte Option sein kann. Zierer ist in seiner Analyse zuzustimmen. Sein Lösungsvorschlag („Sokratischer Eid“ für Lehrpersonen) ist allerdings nicht die Lösung.
Die „Digitalisierung“ der Bildung ist ebenfalls eine eher „von oben“ gesetzte Maßnahme, die nicht im Schulhaus oder von einzelnen Lehrpersonen beschlossen wurde. Man kann es pointiert formulieren: Manches Mal kann man glauben, dass im zuständigen Ministerium die Vorstellung herrscht, dass man die Lernenden nur mit digitalen Endgeräten ausstatten müsse, und dass dann das Lernen „wie von selbst“ funktioniere. Dabei benötigt die Digitalisierung des Unterrichts neben den genannten Endgeräten auch eine funktionierende Infrastruktur (WLAN, starke Leitungen, Stromversorgung usw.). Hier sind Mängel zu beobachten, die dringend behoben werden müssen. Dies ist genauso wichtig wie eine realistische Sichtweise, die die Chancen und Risiken, angepasst an die jeweilige Schulstufe, das Fach und die Lehrziele, abwägt (Siehe dazu meinen Text in „Thema Vorarlberg“, Juli 2021: „Die zweite Welle“). In einem Interview mit dieser Zeitschrift (November 2022) nimmt Zierer ausführlich und differenziert zu dieser Frage Stellung. Es ist ihm aus Sicht „der Praxis“ ausdrücklich zuzustimmen.
Dazu kommt die jahrelange lähmende Diskussion zur „Gesamtschule“ bzw. der „gemeinsamen Schule“, die sich hemmend auf die Entwicklung der Schule auswirkt. Es wäre dringend erforderlich, die ideologischen Positionen zu verlassen und Entscheidungen im Sinne der Lernenden basierend auf wissenschaftlichen Kenntnissen zu treffen, die dann konsequent umgesetzt werden.
Die unsägliche „Entlastungsverordnung“ aus dem Jahr 2003, die zu einer massiven Reduktion von Wochenstunden führte, wurde ebenfalls nicht von Lehrpersonen entschieden. Dieser wohl größte Fehler seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der von den Verantwortlichen in Sachen Bildung begangen wurde, ist bis heute nicht korrigiert. Die Verordnung hat nach wie vor fatale Auswirkungen auf das Bildungsniveau der Lernenden, weil die Zeit für das so wichtige Üben oder für die Vertiefung der Lerninhalte fehlt. Es gibt allerdings erste Schritte in die richtige Richtung. Es wird im Ministerium über ganztätige Angebote nachgedacht. Außerdem sind die Stunden in der Sekundarstufe 1 zur digitalen Grundbildung zusätzlich in den Stundentafeln.
Auch die Verlängerung der Lehrerausbildung, die sich eher als Nachteil erweist, liegt nicht im Einflussbereich der Lehrpersonen. Dass man heute mindestens sechs (!) Jahre studieren muss, um voll ausgebildet zu sein, dürfte für manchen – sehr geeigneten – jungen Menschen abschreckend wirken, den so wichtigen Beruf zu erlernen.
Das neue Dienstrecht, das grundsätzlich gute Ansätze beinhaltet, ist so gestaltet, dass es zu einer massiven Belastung neu eintretender Lehrpersonen führt. Es wird angesichts von Lehrermangel in Kauf genommen, dass Junglehrer und Junglehrerinnen verheizt werden und bald wieder aus dem Beruf aussteigen. Dabei sind es die ersten Jahre, die entscheidend für den Erfolg einer Lehrperson sind. Es braucht dringend Anpassungen.
Man könnte noch andere Problembereiche darlegen, die die Arbeit der Lehrpersonen bestimmen, auf die sie aber kaum Einfluss nehmen können. Reinhard Sprenger betont, dass es die Rahmenbedingungen sind, die die Arbeit von Menschen, in diesem Fall die der Lehrpersonen, beeinflussen bzw. zu Leistung motivieren. Meine Erfahrung als Schulleiter zeigt, dass die Haltung vieler Lehrpersonen vorbildlich und durchaus an den von Zierer vorgeschlagenen Kriterien orientiert ist. Den Handlungsbedarf sehe ich eher in der Gestaltung der Rahmenbedingungen.
Am Schluss sei angemerkt, dass die Bedeutung der Lehrperson für das Lernen zwar wichtig ist, aber nicht überschätzt werden darf. Der bekannte Schulforscher Hilbert Meyer bezifferte sie im Rahmen eines Pädagogischen Tages an unserer Schule mit circa 25 Prozent. Andere Faktoren wie die oben genannten Problembereiche, die Eingangsvoraussetzungen der Lernenden, die Bedeutung der Erziehungsberechtigten usw. dürfen nicht unterschätzt und in der Diskussion nicht vergessen werden. Zierer wirft den Blick falscherweise nur auf die Bringschuld der Lehrpersonen, geradezu so, als hinge alles von deren geeigneten Einstellung ihrem Beruf und den Schülern gegenüber ab. Er zeigt die übliche Schnellschussreaktion und sieht vor allem die Unterrichtenden in der Schuld und entlastet dabei gleichzeitig die Lernenden, deren Erziehungsberechtigte und die Schulpolitik des Ministeriums. Es ist etwas naiv zu glauben, dass der Hebel nur auf einer Seite angesetzt werden muss. Einseitig mit dem Finger auf die Lehrpersonen zu zeigen und ihnen zu unterstellen, es mangle an ihrer Einstellung, ist populär, populistisch, reduktionistisch und simplistisch. Pointiert kann man formulieren, dass auch die anderen Schulpartner „einen Eid leisten müssten“.

Kommentare

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Wenn ich mir diesen Bericht so durchlese, fühle ich mich 40 Jahre zurückversetzt. Damals, noch selber Schüler, waren es doch genau die gleichen Diskussionen. Sind wir mit unserem Bildungssystem wirklich 40 Jahre später noch keinen Deut weitergekommen? Oder täuscht hier nur die subjektive Sicht des Autors? …und…es ist nicht die Diskussion zur Gemeinsamen Schule, die hemmt. Es sind hier die handelnden Personen, die das größte Hemmnis sind…dazu gehören leider viele Lehrpersonen aber auch die Politik und viele Eltern. Den Schülern würde es gut tun…leider sind meistens diejenigen für die es wäre am wenigsten eingebunden!
Lieber Herr Hämmmerle, es ist immer besser, Bücher erst zu lesen, dann zu urteilen: Zierer betont am Ende in seinem Buch, dass der Eid der Lehrpersonen durch einen Eid der Schüler, der Eltern, der Bildungsverwaltung ergänzt werden muss - Bildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, so schreibt er. Viele Grüße Hans J. Seel