Matthias Sutter

*1968 in Hard, arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik, ist Direktor am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und lehrt an den Universitäten Köln und Innsbruck. Der Harder war davor auch an der Universität Göteborg und am European University Institute (EUI) in Florenz tätig.

74 Tage Besatzung, jahrzehntelange Folgen

November 2023
Die Geschichte der Steiermark nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist ein Lehrbeispiel dafür, wie selbst eine sehr kurze Besatzungszeit einer feindlich gesonnenen Siegermacht jahrzehntelange Folgen für das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum einer Region haben kann. Das ist auch für aktuelle Krisenherde lehrreich.

Aus Sicht der meisten Vorarlberger hatte unser Land wohl Glück, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg von der französischen Armee besetzt wurde. Bekanntlich war Österreich damals von den vier Siegermächten USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich besetzt. Während die vier Siegermächte das Zentrum von Wien gemeinsam verwalteten, waren die Gebiete anderer Bundesländer von 1945 bis 1955 im Wesentlichen unter der Kontrolle einer Besatzungsmacht.
In der Steiermark gab es eine besondere Situation. Am Tag der deutschen Kapitulation, dem 8. Mai 1945, war der größte Teil der Steiermark noch nicht von alliierten Truppen besetzt. Das führte dazu, dass innerhalb von 24 Stunden nach der Kapitulation von Osten her die Rote Armee der UdSSR und aus allen anderen Himmelsrichtungen die westlichen Alliierten USA und Großbritannien so weit wie möglich in die Steiermark vorrückten, um möglichst viel Land zu besetzen. Am 9. Mai 1945 trafen sich dann die westlichen und die östlichen Armeen, was zu einer Kontaktlinie von West und Ost führte, wie sie in der Abbildung rechts unten erkennbar ist. Dabei waren die rot eingefärbten Gemeinden von der UdSSR besetzt und die grauen Gemeinden von Amerikanern und Briten.
Die Besonderheit der Steiermark besteht darin, dass im Juli 1945 die endgültige Zonenaufteilung Österreichs beschlossen wurde und dabei die Steiermark zur Gänze unter britische Besatzung gestellt wurde. Mit anderen Worten, die Rote Armee hatte sich nach 74 Tagen aus der Steiermark zurückzuziehen. Es war also eine sehr kurze Besatzungszeit durch die Rote Armee, die dennoch jahrzehntelange Folgen hatte, wie eine aktuelle Forschungsarbeit von Christian Ochsner vom renommierten Forschungsinstitut CERGE-EI in Prag zeigt.
Ochsner analysierte anhand wirtschaftlicher und demografischer Daten, wie sich die Gemeinden östlich und westlich der Kontaktlinie nach 1945 entwickelten. Dabei stellte er fest, dass die von der roten Armee für 74 Tage besetzten Gemeinden seit den Nachkriegsjahren um bis zu 25 Prozent weniger Bevölkerungswachstum aufweisen als die direkt angrenzenden, von den Westalliierten befreiten Gemeinden. Während den letzten Kriegswochen und in der Zeit unmittelbar nach Kriegsende flohen vor allem junge Menschen und Familien nach Westen, um der Besatzung durch die Rote Armee zu entgehen. Dies führte unmittelbar zu einer zwölfprozentigen Bevölkerungszunahme in den Gemeinden westlich der Kontaktlinie. Die jüngere Bevölkerungsstruktur im Westen sorgte dann in den folgenden Jahrzehnten zu noch höheren Unterschieden in der demografischen Entwicklung, was sich etwa in höheren Geburten- und Heiratsraten, und gleichwohl in einer tieferen Todesrate zeigte. Diese unterschiedliche Altersstruktur der Bevölkerung und die daraus resultierenden Unterschiede des natürlichen Bevölkerungswachstum führten dazu, dass steirische Gemeinden mit kurzfristiger Besatzung durch die Rote Armee im Jahr 2011 eine im Durchschnitt 25 Prozent kleinere Bevölkerung aufweisen als ihre direkten Nachbargemeinden. 
Diese Einflüsse gelten aber nicht nur für die Bevölkerungsentwicklung, sondern auch für das wirtschaftliche Wachstum. Die Rote Armee hatte in ihrer kurzen Belagerungszeit im Vergleich zu den westlichen Alliierten viel mehr Industrieinfrastruktur entweder zerstört oder abgebaut und in die Heimat geschickt. Deshalb waren die Menschen in diesen Gebieten (im Vergleich zu den westlichen Gemeinden) in den ersten Nachkriegsjahren relativ stärker in der Landwirtschaft beschäftigt als im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungssektor. Gleichzeitig verzögerte sich der Strukturwandel: Menschen östlich der Kontaktlinie waren etwa in der Landwirtschaft sehr viel schlechter mit Maschinen ausgestattet als jene im Westen. Auf 1000 Arbeiter in der Landwirtschaft gab es Anfang der 1950er-Jahre etwa 18 Traktoren. Jedoch waren es in den Gebieten östlich der Kontaktlinie nur etwa acht Traktoren, was die Produktivität der Arbeit wesentlich reduzierte und damit die wirtschaftliche Entwicklung im Vergleich zu den westlichen Gemeinden verlangsamte. Selbst in der Gegenwart kann man noch feststellen, dass sich die Gemeinden östlich und westlich der Kontaktlinie im Aufkommen der Kommunalsteuer unterscheiden. Die Kommunalsteuer, die vom Bruttolohn der Arbeitnehmer in einer Gemeinde abhängt, ist in den Gemeinden westlich der damaligen Kontaktlinie bis heute höher als in den östlichen Gemeinden.
Das Beispiel der Steiermark nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt, dass selbst eine kurze Zeit einer feindlichen Besatzung zu langfristigen Wirkungen führen kann, selbst wenn danach wieder eine Besatzungsmacht (nämlich die von der Bevölkerung als deutlich freundlicher wahrgenommene britische Armee) folgte. Als unmittelbare Reaktion auf die Besatzung durch die Rote Armee flohen junge, mobile und relativ höher gebildete Menschen. Das hatte Folgen auf die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, und zwar im konkreten Fall jahrzehntelange. Wenn man über aktuelle Krisenherde und Besatzungen nachdenkt, dann folgt daraus, dass man bei den Planungen für eine Nachkriegs- oder Nachbesatzung-Ordnung immer mitbedenken sollte, wie man junge und qualifizierte Menschen wieder in die betreffenden Regionen zurückholen kann, weil sonst sehr lange und negative Folgewirkungen drohen.

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