Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Auf diesem Auge blind“

November 2020

Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer (44) sagt im Interview: „Das Digitale kann den Kern des Pädagogischen nicht ersetzen.“ Ein Gespräch mit dem Ordinarius für Schulpädagogik und einstigen Grundschullehrer über Lernen in Zeiten von Corona, den richtigen Umgang mit der Technik – und gute Lehrer.

Herr Professor, hat Corona gezeigt, was gute Schule eigentlich ausmacht?
Corona hat deutlich gezeigt, dass wir im schulischen Kontext schon lange Defizite mitziehen, ich nenne da nur die Eltern-Kooperation oder sinnvolle Aufgabengestaltung. Corona hat aber auch deutlich gemacht, dass das Digitale den Kern des Pädagogischen nicht ersetzen kann. Denn je länger die Kinder zu Hause waren, desto deutlicher wurde, dass für den Bildungserfolg die soziale Dimension, die Interaktion im Klassenzimmer und die gemeinsamen Regeln und Rituale in der Schule ausgesprochen wichtig sind. 

Hat Corona also bewiesen, was Sie immer schon sagten, dass Pädagogik stets vor Technik komme?
Aus meiner Sicht hat Corona das bestätigt und weiter erhärtet. Aber bildungspolitisch erkenne ich diese Perspektiven leider nicht. Es werden massenhaft Tablets angeschafft, und es wird über Flatrates für die Kinder diskutiert, aber es wird nicht hinterfragt, was denn auch pädagogisch notwendig wäre, damit das Ganze funktioniert. Bildungspolitisch ist man auf diesem Auge nach wie vor blind. Trotz umfangreicher Studien zur Corona-Situation sind sich Bildungspolitiker nach wie vor nicht der Risiken bewusst, welche negative Konsequenzen zu viel Technik-Konsum auf Seiten der Lernenden mit sich bringen.

Wobei digitale Kompetenzen ja zweifellos zu den „21st Century Skills“ gehören, um einen Anglizismus zu bemühen?
Natürlich. Wir leben in einer Welt, in der die Bedeutung des Digitalen in allen gesellschaftlichen Bereichen zunimmt. Also gehört die Auseinandersetzung mit der digitalen Welt und mit den digitalen Medien zum heutigen Bildungsauftrag. Es gibt allerdings einen deutlichen Unterschied zwischen digitalen Medien als Mittel, um Bildungsprozesse zu unterstützen, und digitalen Medien als Bildungsgegenstand. Es geht ja nicht nur darum, diese Medien handhaben zu können, es geht auch um die kritische Perspektive: Wo sind die Grenzen dieser Technik? Welche Gefahren gibt es im Internet? Und so weiter …

Sie warnen davor, dass „mit dem Digitalen die Gefahr verbunden ist, den Kern des Pädagogischen aus den Augen zu verlieren: den Menschen“ ...
Wir neigen dazu, gesamtgesellschaftlich alles zu digitalisieren, was digitalisiert werden kann. Und in ähnlicher Weise machen wir das mittlerweile auch im pädagogischen Kontext. Ich unterscheide aber, was einerseits technisch möglich und was andererseits pädagogisch sinnvoll ist. 

Ein Beispiel wäre gut.
Ein Beispiel? Es ist technisch möglich, das Erlernen einer Fremdsprache sich zu sparen und stattdessen eine App zur Kommunikation zu nutzen. Pädagogisch sinnvoll ist das nicht. Denn das Erlernen einer Fremdsprache ist mehr, als nur die Sprache zu sprechen. Sprache ist immer auch die Vermittlung von Kultur, von Werten, von Normen, von Geschichte. 

Sie schreiben, dass so mancher behaupte, Lernen sei etwas Leichtes, wenn nur die richtige Technik zur Verfügung gestellt werde. Dabei gebe es „nichts Falscheres als das.“ Warum? 
Weil Lernen immer mit Anstrengung zu tun hat. Wer lernt, muss an seine Grenzen gehen, muss eingestehen, etwas nicht zu können, muss Kraft aufbringen und Einsatz zeigen, um sich weiterzuentwickeln. Wer lernt, muss Fehler machen, Umwege und Irrwege gehen. Der Fehler ist der Motor des Lernens. Wir müssen scheitern, um daran zu wachsen. Bildung zeigt sich ja nicht in der Beantwortung der Frage, was man aus mir gemacht hat, sondern darin, was ich aus meinem Leben gemacht habe. 

Reden wir doch noch über das richtige Lernen ...
Kinder wachsen heute mit einem anderen Bewusstsein für neue Medien auf. Das ändert aber nichts daran, dass sie nach denselben Grundsätzen lernen wie die ältere Generation. Die menschliche Evolution kommt in diesem Fall der digitalen Revolution nicht hinterher. Lernen bleibt Lernen. Und wenn wir das verkennen und nur auf das Digitale schauen, dann verkennen wir den Menschen in seinen Möglichkeiten und auch in seinen Grenzen. Denn die Kernausrichtung des Menschen ist die Interaktion mit anderen Menschen. Digitalisierung ist also nur als Mittel zum Zweck zu sehen. Sobald Technik zum Selbstzweck wird und Menschen sich in ihr verlieren, ist Vorsicht geboten.

Wie ist das mit der Evolution und der Revolution und dem Lernen zu verstehen?
Die technische Entwicklung in den vergangenen drei Jahrzehnten war revolutionär, die Möglichkeiten der Technik scheinen fast grenzenlos zu sein. Doch all diese technischen Revolutionen können wir zumindest heute noch nicht im Bildungskontext nachweisen. Denn der Mensch war vor 30 Jahren mit seinen neurologischen Möglichkeiten und den Kapazitäten des Verstandes nicht anders als der Mensch heute. Da tritt der Mensch gewissermaßen auf der Stelle, und das seit langer Zeit. Lernen bleibt deswegen Lernen. Es kommt in einem erfolgreichen pädagogischen Konzept darauf an, dass die Beziehungsebene stimmt, dass eine Atmosphäre des Vertrauens herrscht, dass Lernen motivierend und herausfordernd ist, dass Klarheit besteht, dass eine Interaktion zwischen den Lernenden möglich ist. All diese Eckpfeiler sind dem Lernen immanent, unabhängig von den Medien.

Die politisch und medial propagierte Vision, Schulen zu digitalen Lehranstalten zu machen, ist für Sie also mehr Drohung denn Verheißung?
Ja. Diese digitale Überhöhung ist schwierig, weil sie eben die Grundprinzipien der Pädagogik ignoriert. Wir brauchen vielmehr eine humane Schule im Zeitalter der Digitalisierung, in der wir versuchen, digitale Medien so einzusetzen, dass sie Schule unterstützen, Lernprozesse optimieren, vielleicht auch neue Wege aufzeigen. Aber wir dürfen das Digitale nicht als Ersatz für das Humane sehen, weil wir in diesem Fall Bildungsprozesse untergraben. Im Übrigen hat Digitalisierung eine Schlagseite, die kaum diskutiert wird, die wir aber nicht aus den Augen verlieren dürfen: Das Thema der Nachhaltigkeit. Digitalisierung ist alles andere als nachhaltig. Angesichts des Klimawandels müssen wir auch diesen Aspekt dringend mitdenken, gerade an einem Bildungsort, gerade in den Schulen.

Sie schrieben in einem Essay: „Wir diskutieren häufig die falschen Sachen.“ ...
Man spricht oft über Oberflächenmerkmale, wie kleinere Klassen, Schulstrukturen und die Ausstattung der Schulen; man dringt aber nur sehr selten in die Tiefenstrukturen des Unterrichts vor, die allerdings das Entscheidende sind, wenn es um Bildungserfolg geht. PISA war leider ein zumindest falsch verstandener Anstoß in diese Richtung. Damals hieß es, wir müssten alle nach Finnland pilgern, weil die das beste Schulsystem hätten. Da hat man angefangen, stärker auf Systemfragen zu schauen als auf das, was im Unterricht konkret passiert.

Sie arbeiten eng mit John Hattie zusammen, der in seinen umfassenden Untersuchungen zum Schluss kommt, dass letztlich nur der gute Lehrer entscheidet und nichts Anderes.
Genau. Studien zeigen, dass die Lernerfolgs-Unterschiede zwischen zwei Schulen heute geringer sind als zwischen zwei Klassen ein und derselben Schule. Und das weist deutlich darauf hin, dass es die Lehrperson ist, die besonders wirksam ist. Sie entscheidet, wie sie mit Lernenden agiert, wie sie eine Lernatmosphäre aufbaut, wie sie setzt oder Feedback von den Lernenden einholt.

Und da schließt sich der Kreis, oder? Sie sagen ja, es hänge vom Lehrer ab, ob Digitalisierung im Bildungsbereich erfolgreich sein könne.
Zu einhundert Prozent. Entscheidend für den Erfolg einer Digitalisierung ist nicht die Altersstufe, nicht das Fach und nicht die Technik. Ob Digitalisierung im Bildungsbereich erfolgreich ist, hängt in entscheidender Weise von der Professionalität der Lehrpersonen ab. Je besser es Lehrpersonen gelingt, neue Medien so einzusetzen, dass sie bisherige Aufgaben im Hinblick auf Anforderungsniveau und Kommunikation neu belegen, desto größer wird der Einfluss auf die Lernleistung von Schülern sein. Ist keine Professionalität gegeben oder die Sinnhaftigkeit der Technik von Anfang an nicht durchdacht, ist Scheitern die Folge. Lehrpersonen müssen wissen, wann es sich lohnt, neue Medien in den Unterricht zu integrieren und wann es besser ist, mit traditionellen Medien zu arbeiten.

Sind Schüler die großen Leidtragenden dieser Pandemie?
Ja, definitiv. Kinder sind massiv betroffen, die Situation ist dramatisch. Nehmen Sie nur die ersten Klassen, die nach sechs Monaten aus der Schule gerissen wurden und jetzt im zweiten Schuljahr sind. Die bräuchten noch dringend mehr Einschulungsphase. Aber daran wird nicht immer geachtet. Vielfach tut man so, als wäre das Schuljahr gar nicht unterbrochen worden, als hätte es nie einen Lockdown gegeben. Und wenn man, salopp gesprochen, schnell mal hunderttausend Tablets ins Land schmeißt, hat man nicht verstanden, worum es bei Bildung geht. Das sind bloß bildungspolitische Fassaden, die man da errichtet. Ich sage es nochmals: Das Digitale kann das Pädagogische nicht ersetzen, es ist ihm unterzuordnen. Interaktion zwischen Menschen ist nicht programmierbar. Es braucht Empathie, Gefühle, Emotionen, es braucht situative Interaktion, weil der Mensch den Menschen anders erfasst, ganzheitlicher erfasst. Jeder Versuch, die Kommunikation, die dem Menschen in die Wiege gelegt worden ist, durch Technik zu ersetzen, muss langfristig scheitern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Klaus Zierer (* 1976 in Vilsbiburg) ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Associate Research Fellow an der University of Oxford. Zuvor war er Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften an der Universität Oldenburg. Nach dem Studium des Grundschullehramts war er zunächst mehrere Jahre als Grundschullehrer tätig. Zu erwähnen sind die Arbeiten im Anschluss an John Hattie, die er mittlerweile in eigenständigen Projekten und Publikationen fortführt. Zierer ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem sind von ihm erschienen: „Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik“; gemeinsam mit John Hattie: „Visible Learning auf den Punkt gebracht“ und zusammen mit Walter Dorsch „Schulkinder gleich Sorgenkinder?“

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