Pater Martin Werlen

* 1962 in Obergesteln im Kanton Wallis, Benediktiner, Mönch des Klosters Einsiedeln und Philosoph, Theologe und Psychologe, war von 2001 bis 2013 der 58. Abt des Klosters und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz.
Seit August 2020 ist Pater Martin Propst der zum Kloster Einsiedeln gehörenden Propstei St. Gerold. Vom mehrfachen Bestsellerautor zuletzt erschienen ist das Buch „Raus aus dem Schneckenhaus“, Verlag Herder, 2020.

Auferschrecken!

Juni 2021

Als der amerikanische Präsident noch täglich von sich hören ließ – offensichtlich nicht immer nach bestem Wissen und Gewissen –, meinte der Rektor unseres klostereigenen Gymnasiums zu mir: „Wie wird sich das auf die jungen Menschen auswirken, wenn wir Leute an die Spitze unserer Länder wählen, die sich genau so verhalten, wie man sich nicht verhalten sollte?“ Dieser Frage sollten wir uns tatsächlich stellen. Es geht bei den Wahlen in die politischen Ämter nicht einfach nur um Personen und Parteien, die für eine bestimmte Zeit Verantwortung wahrnehmen – es geht um kurz- und langfristige Weichenstellungen in der Kultur unseres Zusammenlebens.

Wem gebe ich meine Stimme?

Kann ich einem Menschen die Stimme geben, der offensichtlich lügt und das für das Normalste hält, wenn es ihm nützt? Kann ich einem Menschen die Stimme geben, der sich nicht die Mühe macht, andere Meinungen zuerst einmal in Ruhe anzuhören und mitzudenken, bevor er mit seinem eigenen verachtenden Geschwätz hineinschreit? Kann ich einem Menschen die Stimme geben, der sich nicht nur über die Abstandsregeln in einer Pandemie hinwegsetzt, sondern auch außerhalb einer Pandemie die minimalsten Anstandsregeln nicht respektiert? Kann ich einer Partei die Stimme geben, deren Obmann sich in Parlamentssitzungen so verhält, wie wir das bei keinem Kind akzeptieren würden? Kann ich einer Partei die Stimme geben, deren Kommunikation von Verachtung gegenüber Menschen am Rande der Gesellschaft geprägt ist? Selbstverständlich macht jeder Mensch Fehler. Problematisch wird es, wenn er sich dafür nicht mehr schämen kann. Die Frage „Wie wird sich das auf die jungen Menschen auswirken, wenn wir Leute an die Spitze unserer Länder wählen, die sich genau so verhalten, wie man sich nicht verhalten sollte?“ kann uns für Probleme hellhörig machen, die wir heute in unseren Demokratien haben. Zwei mich tief beeindruckende Persönlichkeiten haben darauf in aller Deutlichkeit geantwortet.

Zu reden, zu schreiben und zu denken geben

Der Schweizer Weihbischof Peter Henrici, ein tiefgläubiger großer Denker mit dem nötigen Sinn für das Praktische, hat 2005 – nach verachtenden Plakaten gegen Menschen aus anderen Kulturen – gesagt: „Ich bin der Meinung, dass die SVP die einzige Partei ist, die ein guter Christ nicht wählen kann.“ Das gab in der Schweiz zu reden, zu schreiben und zu denken. Eine große Zeitung wollte Henrici die Möglichkeit zu einem Interview geben, damit er seine Aussage ein wenig differenzieren könne. Er verzichtete darauf mit dem Hinweis, dass die SVP noch schlechter davonkäme, wenn er mehr differenzieren würde. 
Dies war kein Angriff auf geschätzte Persönlichkeiten in dieser Partei oder auf lobenswerte Anliegen im Parteiprogramm, wohl aber auf die verheerende Kultur, die immer wieder zum Vorschein kommt und offensichtlich von der Parteizentrale gepflegt wird. Tatsächlich können Parteien, die sich als Retter der Demokratie präsentieren, diese durch ihr Verhalten untergraben. 
Die zweite Persönlichkeit, die ich hier anführe, ist der Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier. Zu reden, zu schreiben und zu denken gab seine Rede 2018 im Parlament beim Gedenken an verfolgte Juden. Er hatte den Mut, die politische Kultur im Blick auf die Jugendlichen zu hinterfragen, um ihnen auch in Zukunft in die Augen sehen zu können. Er nannte die Dinge beim Namen. Er deckte Verlogenheit auf. Er warnte vor der moralischen Verkommenheit und vor der Gefahr der kontinuierlichen Abstumpfung. „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt. Nie. Sondern mit vielen kleinen. Von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.“

Gefährdung der Demokratie

Jede Demokratie ist gefährdeter, als man das bis anhin annahm. In Krisenzeiten wie der jetzigen kommt noch mehr zum Vorschein, „aus welchem Holz wir geschnitzt sind“ (Bundespräsident Van der Bellen). Dazu gehört die Versuchung zur Verachtung. Wenn ihr nachgegeben wird, kann sie tötend wirken. Heute salonfähig gewordene verachtende Verhaltensweisen in der Politik sind trotz vielerlei gegenteiliger Beteuerungen eine Untergrabung der Demokratie. Wenn in Rechtfertigung des in Frage gestellten eigenen Verhaltens ständig mit den Pfeilen „Fake News“ um sich geschossen wird, sollten wir hellhörig werden. Wer mit „Diktatur“ um sich schlägt und demokratisch Gewählte leichtsinnig „Diktatoren“ und „Tyrannen“ nennt, bereitet eine Kultur, die den Boden der Demokratie zerstört. Wer auf solche Spielchen hereinfällt, kann dann plötzlich tatsächlich in einer Diktatur landen. Die ständige Aufwiegelung von gutmütigen Menschen führt – wie der Ansturm auf das Parlament am 6. Januar in den USA gezeigt hat – selbst in der größten Demokratie zu Zerstörung und Totschlag. 

Jetzt auferschrecken!

Aufgabe der Politik aber ist der Aufbau der Gesellschaft. Das ist eine große Herausforderung für alle Parteien, für alle Politikerinnen und Politiker und vor allem für alle, die wählen können. Welche Menschen möchte ich den Kindern und Jugendlichen als Vorbilder empfehlen? In einem Fernseh-Interview zu einem meiner Bücher meinte ein Niederländer spontan, dass ich auferschreckt sei. Diese ungewollte Wortneuschöpfung gefällt mir. Bei jeglicher Kultur der Verachtung und der Diskriminierung müssen Getaufte immer jetzt auferschrecken – zusammen mit allen Menschen guten Willens – und ihre Stimme erheben.

Kommentare

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Ich bin überrascht, Ihren Beitrag hier zu lesen und wünschte mir, Ihre fundierten Ansichten und Beobachtungen in schweizerischen Medien regelmässig vorzufinden. Danke für Ihre guten Gedanken. Silvia Maria Johann