Pater Martin Werlen

* 1962 in Obergesteln im Kanton Wallis, Benediktiner, Mönch des Klosters Einsiedeln und Philosoph, Theologe und Psychologe, war von 2001 bis 2013 der 58. Abt des Klosters und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz.
Seit August 2020 ist Pater Martin Propst der zum Kloster Einsiedeln gehörenden Propstei St. Gerold. Vom mehrfachen Bestsellerautor zuletzt erschienen ist das Buch „Raus aus dem Schneckenhaus“, Verlag Herder, 2020.

Respektvoller Umgang mit der ganzen Schöpfung

September 2021

Die olympischen Spiele in Japan haben unter besonderen Umständen stattgefunden. An mir ist das Großereignis fast spurlos vorbeigegangen. Fast – denn am Schluss sind mir ein paar Bilder ziemlich eingefahren. Beim Modernen Fünfkampf kam es in der umstrittenen Teildisziplin Springreiten zu einem Eklat. Ein Pferd verweigerte sich dem Spiel. Sowohl die Reiterin als auch die Trainerin schlugen das Pferd. Letztere spornte an: „Hau drauf, hau richtig drauf!“
Gewiss: Es ging hier um eine Medaille. Aber einer der Hauptbeteiligten war nicht gefragt. Das Pferd war in Panik. Die Szene war nicht nur eine Momentaufnahme. Das Bild aus den olympischen Spielen machte deutlich, wie wir oft mit Tieren umgehen. Selbst im Gesetz wurde das Tier bis vor kurzer Zeit als Sache behandelt. Unsere Sprache verrät das, wenn wir zum Beispiel von „Nutztieren“ sprechen. Den Weg vom Ich zum Wir haben wir nicht nur unter uns Menschen immer neu zu wagen, sondern mit der ganzen Schöpfung. Der Heilige Franziskus (1181-1226) hat dieses Wir in seinem Sonnengesang unübertrefflich in Worte gefasst. Alle Geschöpfe werden mit Schwester und Bruder angesprochen.
In der Enzyklika „Laudato si‘“ schreibt Papst Franziskus: „Wenn wir uns der Natur und der Umwelt ohne diese Offenheit für das Staunen und das Wunder nähern, wenn wir in unserer Beziehung zur Welt nicht mehr die Sprache der Geschwisterlichkeit und der Schönheit sprechen, wird unser Verhalten das des Herrschers, des Konsumenten oder des bloßen Ausbeuters der Ressourcen sein, der unfähig ist, seinen unmittelbaren Interessen eine Grenze zu setzen. Wenn wir uns hingegen allem, was existiert, innerlich verbunden fühlen, werden Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen. Die Armut und die Einfachheit des Heiligen Franziskus waren keine bloß äußerliche Askese, sondern etwas viel Radikaleres: ein Verzicht darauf, die Wirklichkeit in einen bloßen Gebrauchsgegenstand und ein Objekt der Herrschaft zu verwandeln. Andererseits legt der Heilige Franziskus uns in Treue zur Heiligen Schrift nahe, die Natur als ein prächtiges Buch zu erkennen, in dem Gott zu uns spricht und einen Abglanz seiner Schönheit und Güte aufscheinen lässt“ (11-12).
Da wird uns deutlich, dass der Verzicht nicht ein Rückfall in die Steinzeit ist, wie dies der Bundeskanzler vor Wochen in einem Interview in Vorarlberg meinte. Nein, der Verzicht ermöglicht mehr Leben für alle. Diesen Weg hat Papst Franziskus auch in der Propstei St. Gerold angeregt und intensiviert. Durch diese sehr lesenswerte Enzyklika ist uns einiges aufgegangen. Vieles in der Propstei lädt uns ein, nicht Pferde zu haben, sondern mit Pferden auf dem Weg zu sein. Fast alle Darstellungen des Heiligen Gerold legen uns das nahe. Gott sprach durch einen Esel zu Gerold. In der Geroldsstube ist Gerold mit einem Esel unterwegs. Ein von Hunden verfolgter Bär fand bei Gerold Zuflucht und Trost. Darum gibt’s in der Geroldsstube und im Klosterladen den Propstei-Likör „Bärentröster“. Vor der Krypta des Heiligen Gerold ist er dargestellt mit dem befreundeten Bären. Selbst die Hunde der Jäger schlossen sich dem Einsiedler friedlich an.
Diesen Schritt des respektvollen Miteinanders wagen wir in der Propstei St. Gerold mit unserem engagierten Pferde-Team. In Zukunft werden wir nicht weniger mit den Pferden arbeiten, sondern sie mehr und intensiver in den Propstei­betrieb einbinden. Sie werden nicht einfach hergenommen, um eine Therapiestunde zu absolvieren, sondern die therapeutischen Begegnungen werden so gestaltet, dass das Wohl des Menschen und das Wohl des Tieres im Mittelpunkt stehen. Mehr als bisher sollen Kinder, Jugendliche und Erwachsene – vor allem Menschen, die dessen besonders bedürfen – in Therapien mit den Pferden und im Teilen des Propsteilebens erfahren, dass sie aufatmen können und aufgerichtet werden. Das gilt für Einzelne und besonders auch für Familien. Mit der Neugestaltung des Gartens sind die Besucherinnen und Besucher eingeladen, den Garten nicht nur von außen zu bestaunen, sondern drinnen zu schlendern und sich auf einem der Bänklein auszuruhen.
Die Propstei St. Gerold lebt vom Miteinander – vom Miteinander von Gott und Mensch, von Himmel und Erde, von Mensch zu Mensch, vom Miteinander der ganzen Schöpfung. Wir sind bemüht, dieses Miteinander immer mehr zu entdecken und zu fördern. Wir sind zwar nicht bei den olympischen Spielen, aber wir tun unser Bestes, mit der ganzen Schöpfung respektvoll umzugehen.

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