Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Corona und die Kunst des Abwägens

Mai 2020

Es fällt auf, dass im Umgang mit der gegenwärtig alle Kanäle des sozialen Lebens dominierenden Pandemie eine Praxis besondere Hochkonjunktur hat: das Abwägen. Was sonst eher hinter verschlossenen Türen in ruhigen Besprechungszimmern oder am Schreibtisch geschieht, drängt nun in den Vordergrund und wird öffentlich zelebriert. Und dabei geht es um heikle, ja teilweise sehr brisante Probleme, die schwer zu entscheiden sind. Manchmal geht es sogar um Entscheidungen, die getroffen werden müssen, ohne die Folgen abschätzen zu können, auf Basis unsicherer Fakten, umstrittener Zahlen und einander widersprechender Interpretationen durch Experten. Auch wenn erst in einigen Jahren das gegenwärtige Geschehen durch Epidemiologen, Medizinhistoriker, Juristen, Ökonomen, Wirtschaftshistoriker und andere beurteilt werden kann, sind das Beobachten und das Verarbeiten der Gegenwart wichtig. Nicht umsonst entstehen Corona-Tagebücher, und die Kanäle der sozialen Medien werden Tag für Tag von Alltagswahrnehmungen geflutet. All das ist wichtig und wird in Jahren oder Jahrzehnten vielleicht zur Erklärung des Geschehens, das jetzt noch niemand verstehen kann, beitragen. 
All die von Regierungen angeordneten Maßnahmen waren und sind Produkt eines Abwägens, teils mit Hilfe von sozialstatistischen Schätzungen. Was nützt es, Großveranstaltungen abzusagen? Was bringt das Schließen von Universitäten und Schulen? Was kann durch Ausgehbeschränkungen erreicht werden? Was durch die Schließung von Betrieben? Die in Kauf genommenen wirtschaftlichen Schäden, so die Überlegung, wiegen allemal die Menschenleben auf, die man dadurch retten konnte. All das stand unter dem Einfluss von Bildern und Berichten aus China und vor allem aus Italien. Was jeder Verantwortliche verhindern wollte: Die Situation, in der der Bedarf an Beatmungsgeräten und Intensivbetten jenem der Kapazitäten übersteigt und Ärzte gezwungen sind, abzuwägen, welche Kranken behandelt werden soll und welche nicht. Das Verfahren der Triage, also der Reihung der Kranken nach Behandlungswürdigkeit, hat eine lange Tradition und wirft dennoch immer wieder eine Reihe komplizierter rechtlicher, ethischer und medizinischer Fragen auf, die aus gegebenem Anlass gerade jetzt wieder diskutiert werden.
Um niemanden vor dieses schreckliche Dilemma zu stellen – weder die Ärzte, die von Fall zu Fall entscheiden müssten, noch die Politiker, die zu rechtfertigen gezwungen wären, wie es zu dieser Situation kommen konnte – waren und sind strenge Verordnungen und ihre Durchsetzung durch Exekutivorgane gerechtfertigt. Doch sofort wird ein weiteres Abwägen notwendig: Kann man die Folgen der Maßnahmen, der „Shutdowns“ verantworten? Könnte es nicht sein, dass der „Shutdown“ nicht mehr Opfer fordert, als er zunächst durch Verminderung der Infektionsausbreitung bringt? Auch bei der Durchsetzung der rasch formulierten Verordnungen stehen die ausführenden Organe immer wieder vor der Entscheidung: Wann ist jemand zu strafen und mit einer Verwaltungsstrafe zu belegen, wann genügt eine Ermahnung oder wann ist eine freundliche Information ausreichend? Und schließlich ist es Sache des Bürgers abzuwägen, welche Entscheidungsträger – auf allen Ebenen – den Problemen gewachsen sind, welche Anordnungen der Behörden anzufechten sind, weil sie in unangemessener Weise Grundrechte verletzen.
Der Prozess des Abwägens erfordert einen kühlen Kopf, aber in einer akuten Krise sind alle Köpfe starken Gefühlen ausgesetzt. Das mächtigste ist die Angst. Bei vielen vielleicht die Angst vor der Krankheit selbst, bei anderen die Angst vor den Folgen falscher Entscheidungen, bei nicht wenigen die Angst um die wirtschaftliche Existenz. Es soll auch Leute geben, die Angst vor den Angstmachern haben.
Kann Angst der richtige Ratgeber sein, eine wichtige Stütze beim Abwägen? War die Entscheidung des britischen Premiers, die Taktik im Umgang mit der Pandemie zu ändern, von Angst beeinflusst? Die Vorstellung, man könne mittels rascher „Durchseuchung“ eine „Herdenimmunität“ erreichen, war falsch. Denn das, so rechneten ihm Experten vor, führe zu einer allzu großen Opferzahl. Die schwedische Regierung, beraten von Anders Tegnell, setzt konsequent auf die Eigenverantwortlichkeit der Bürger und verzichtete auf einen weitgehenden „Shutdown“. Welcher Weg der bessere ist, wird sich erst nach einiger Zeit sagen lassen und wird vermutlich auch dann umstritten sein.
Entscheidend für die Konjunktur des Abwägens ist jedenfalls, dass die diversen restriktiven Maßnahmen jeweils notwendig ein Abwägen auf anderen Ebenen nach sich zieht, bis hin ins Private hinein. Das Personal von Altenheimen und Krankenhäusern muss abwägen, ob trotz der ausgesprochenen Besuchsverbote Sterbende in ihren letzten Tagen ausnahmsweise besucht werden dürfen. Bislang durften sie meist nicht. Eltern müssen sich überlegen, wie streng die Kinder zu isolieren sind. Sie müssen abwägen, ob Besuche befreundeter Kinder möglich sind. Die Polizei steht vor der Frage, wie auf Anrufe empörter Nachbarn zu reagieren sei, die beobachteten, wie Kinder, die nicht in einem Haushalt wohnten, miteinander auf der Straße spielten. Soll sie die Anrufer ermahnen oder die Eltern der Kinder? Und in den diversen Beratungsstäben von Ministern und allerhöchsten Behördenleitern muss letztlich abgewogen werden, was im Zweifelsfall mehr wert ist, Freiheitsrechte oder Sicherheitsbedürfnisse. 
Auch die Lockerung der Maßnahmen erfordert schließlich ein Abwägen: Welche Betriebe stellen ein größeres Risiko dar, welche ein kleineres? Welche können zuerst öffnen? Wo hat man Schutzmasken zu tragen? Wer hat Masken zu tragen? Wie lange? Was geschieht, wenn man Betriebe öffnet, Schulen aber geschlossen hält? Welche Grenzen kann man zuerst öffnen? Auch die wirtschaftlichen Fördermaßnahmen machen ein Abwägen auf allen möglichen Ebenen notwendig. Wie kann man die bei den Betrieben entstandenen Schäden kompensieren, ohne einen Staatsbankrott zu riskieren? Wie kann man die unterschiedlichen Selbständigen, Kleinunternehmer aller Art, all die Künstler und Therapeuten und all die anderen unterstützen und dabei Ungerechtigkeiten vermeiden?
Wo wird man eigentlich in der Kunst des Abwägens unterrichtet? Und was machen Politiker, Beamte oder wichtige Funktionäre von wichtigen Verbänden, wenn sie bei ihren Versuchen, auszuloten, was schwerer wiegt, was wichtiger ist oder was wertvoller, auf Unwägbares stoßen? Auf sogenannte Imponderabilien, auf Verhältnisse oder Dinge, die sich dem Abwiegen, dem Messen, dem Taxieren entziehen? Gesellschaftliche Prozesse, sei es das Zusammenleben, sei es das Wirtschaften vollziehen sich nicht unter Laborbedingungen. Gesetze und Verordnungen formulieren allgemein, das Leben der Menschen ist aber immer ein besonderes. Von einer klugen Stimme wurde in einer Radiosendung neulich darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen ganz unterschiedlich wirken, je nachdem, ob man einen großen Garten hat, mehrere Computer und ein ausreichendes finanzielles Polster besitzt oder ob eine zu große Familie in einer zu kleinen Stadtwohnung sitzt und kein Geld hat, ob man arbeitslos ist oder gar obdachlos. 
Krisen sind Zeiten, in denen Entscheidungen noch nicht getroffen sind. Häufig wird gesagt, man müsse Opfer bringen. Aber es gilt abzuwägen, wem man welches Opfer bringen soll. Und es gilt zu bedenken, dass das klassische Opfer, das im Zentrum religiöser Rituale steht, nur eines bedeutet: das Opfer des eigenen Denkens (Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1912). In Zeiten, in denen das Abwägen so wichtig und bedeutungsvoll ist, sollten sich Entscheidungsträger manchmal den Luxus leisten, über die Grundlagen desselben nachzudenken. Aber das ist ein frommer Wunsch, denn sie werden – nach Abwägen aller Notwendigkeiten – Wichtigeres zu tun haben.

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