
Das Rätsel der „Henkeychen“ – Zum Jahr 1525 in Vorarlberg
Leopold von Ranke sprach vom „größten Natureignis des deutschen Staates“, Karl Marx von der „radikalsten Tatsache der deutschen Geschichte“: gemeint war der Bauernkrieg 1525, der sich teilweise in unmittelbarer Nachbarschaft von Vorarlberg abspielte, das damals noch nicht als Land existierte, sondern ein Konglomerat mehrerer Herrschaften mit etwa 20 Gerichten war. Die wichtigsten Herren waren: der ganz junge Erzherzog Ferdinand (1503-1564), der Bruder des Kaisers Karl V., und Marx Sittich von Ems (1466-1533), ein erfolgreicher Kriegsunternehmer, der für die Habsburger in Bregenz und Bludenz als Vogt amtierte.
In zahlreichen Regionen von der Schweiz, über das Elsass, Württemberg, Franken und Thüringen, aber auch in Salzburg und Tirol, vor allem aber im unmittelbar benachbarten Allgäu kam es zu Aufständen von Untertanen mit zahlreichen Plünderungen und Brandschatzungen von Schlössern und Klöstern. Es begann immer mit Beschwerden gegen die jeweilige Obrigkeit, also gegen Adelige, Bischöfe oder Klöster. Dann kam es zu langwierigen Verhandlungen, die erfolglos blieben und irgendwann in Gewaltausbrüchen durch einen Bauernhaufen und dessen ungeduldig gewordene Anführer mündeten. Zuweilen wurden die Prälaten und Äbte, die Grafen und Ritter gedemütigt und verspottet, die Vorräte der Schlösser und Klöster geplündert. Getötet und verletzt wurde jedoch seitens der Bauern kaum jemand. Eine bemerkenswerte Ausnahme waren die „Blutostern von Weinsberg“. Da wurden am Ostermontag 1525 etwa 15 Adelige in der kleinen Stadt Weinsberg „durch die Spieße gejagt“ und umgebracht. Die Obrigkeit schlachtete diese aufsehenerregende Gräueltat propagandistisch aus. Auch der Reformator Martin Luther, der 1517 seine 95 Thesen angeschlagen hatte, wandte sich in Reaktion auf dieses einzigartige Ereignis mit einem häufig zitierten Text „Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren“.
Karl Heinz Burmeister, damals Landesarchivdirektor, schrieb 1980, der Bauernkrieg sei an Vorarlberg „mehr oder weniger spurlos“ vorübergegangen. Wirklich spurlos? In der Geschichtsschreibung Vorarlbergs ist das Jahr 1525 seit je mit einem dramatischen Ereignis verbunden, einer Massenhinrichtung von 50 Bauern: Marx Sittich soll 1525 bei seinem Feldzug im Hegau Bauern von Hilzingen gezwungen habe, eine große Glocke an den Untersee und weiter nach Hohenems zu transportieren. „Vor Bregenz“ habe er dann 50 der „rebellischen Bauern“ aufhängen lassen, danach nenne man den Ort „bey den henkeychen“. Diese Geschichte fehlt in fast keiner landesgeschichtlichen Darstellung der Bauernkriege von Weizenegger über Bergmann, Welti und Bilgeri bis Burmeister.
In den Herrschaften vor dem Arlberg blieb man tatsächlich nicht unbeteiligt. Die sich am Bodensee und im Allgäu organisierenden Bauernhaufen – der Seehaufen und der Allgäuer Haufen – standen in ständigem Kontakt mit den Untertanen zwischen Bregenz und Bludenz. Im Bregenzerwald schlossen sich etliche den Allgäuern an, in Bregenz gab es so viele Sympathisanten, dass Amtsleute befürchteten, die Bevölkerung würde sich zu größeren Teilen dem Bodenseehaufen oder den Allgäuern anschließen. Die kriegsbedingte Abwesenheit zahlreicher Landsknechte und ihrer adeligen Anführer begünstigte zunächst die Aufständischen. Auch Marx Sittich kämpfte mit angeworbenen Landsknechten in Italien. Erzherzog Ferdinand schrieb nach der für die Kaiserlichen siegreichen Schlacht von Pavia am 24. Februar dem Ritter von Ems, er möge nun rasch zurückkehren und für Ordnung sorgen. Was auch geschah: Wurden Sympathisanten der Reformation oder der aufständischen Bauern denunziert, dann wurden sie inhaftiert, zuweilen peinlich befragt. Als ein Untertan der Emser auffällig wurde, weil er der lutherischen Lehre angehangen hatte, und überdies noch einen Druck der „Zwölf Artikel“, das seit März kursierende Manifest der Bauern, besaß, kam er nur deshalb wieder frei, da er etliche Fürsprecher hatte, musste aber Marx Sittich schwören, auf Rache zu verzichten. Andere, insbesondere Priester, die der lutherischen Lehre anhingen und sie predigten, wurden des Landes verwiesen oder flüchteten in die Schweiz oder nach Lindau. Ansonsten blieb es in Vorarlberg bei Beschwerden einzelner Gerichte wegen der Steuern und Klagen über den pflichtvergessenen Klerus. Zur Bildung von Bauernhaufen kam es jedoch nicht.
Andere, insbesondere Priester, die der lutherischen Lehre anhingen und sie predigten, wurden des Landes verwiesen oder flüchteten in die Schweiz oder nach Lindau.
Der Schwäbische Bund, ein Verband süddeutscher Adeliger, hatte schon nach den ersten Konflikten im Jänner und Februar 1525 Georg (Jörg) Truchsess von Waldburg (1488-1531, der „Bauernjörg“) beauftragt, gegen die Aufständische vorzugehen. Der stand vor der schwierigen Aufgabe, mit einem noch recht kleinen Heer einerseits die Bauernhaufen zu kontrollieren und zu bekämpfen, musste aber auch auf Hilferufe treuer Untertanen reagieren. Bei Strafaktionen musste er darauf achten, dass er seine Landsknechte nicht in Regionen einsetzte, aus denen sie stammten. Nach Pavia waren viele Landsknechte nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Vorarlberg zurückgekehrt und schlossen sich nun den Truppen des Schwäbischen Bundes, aber auch den Bauernhaufen an. Der Bauernjörg musste allzu großen Bauernhaufen ausweichen, agierte insgesamt sehr vorsichtig, veranstaltete aber auch furchtbare Gemetzel und regelrechte Strafaktionen. In Weingarten schloss er einen Vertrag mit dem Seehaufen und Teilen des Allgäuer Haufens, in dem man sich auf Schiedsgerichtsverfahren einigte. Die Bauern sollten Geraubtes wieder herausgeben, ihre Haufen auflösen und ihren Verpflichtungen wieder nachkommen, also Steuern zahlen. Selbst Erzherzog Ferdinand, durch Aufstände von Bergknappen und Bauern in Tirol unter Druck, verhandelte mit Vertretern der Untertanen in Füssen und hatte schon zugestanden, die Leibeigenschaft aufzuheben. Ein unerhörtes Zugeständnis. Doch bevor die Verhandlungen abgeschlossen und die Verträge besiegelt waren, mehrten sich die Erfolge der Truppen des Schwäbischen Bundes, die nach einem siegreichen Feldzug durch Württemberg, Franken schließlich auch im Allgäu die letzten sich auflösenden Bauernhaufen in die Flucht schlugen. Die Leibeigenschaft blieb noch lange erhalten. Erstaunlich war die Bilanz des Bauernjörg: Er legte mit seinen Truppen über 1100 Kilometer zurück, tötete in mehreren Kämpfen über 20.000 Bauern und verlor selbst nur etwa 100 Mann. Die Zahl der Hingerichteten, Geblendeten und anders Verstümmelten ist unbekannt.
Viele Anführer der flüchtenden Bauern wollten in die Schweiz. Eine Gruppe von 17 Allgäuern wurde im August 1525 auf ihrem Marsch bei Bludenz gefangen genommen. Als sie nach Hohenems abtransportiert werden sollten, gab es einen Aufstand. Die Bludenzer Bürger erreichten, dass die Gefangenen in der Stadt blieben. Hier wurden sie unter der Folter befragt, im Dezember schließlich „in Eisen“ nach Bregenz verlegt. Am 20. Jänner 1526 gelang 15 von ihnen – wahrscheinlich mit Hilfe von Bregenzer Bürgern – die Flucht, zwei „Rädelsführer“ wurden darauf an der „Henckeyche“, der Richtstätte bei der Bregenzer Klause, gehängt. Zwei rabiate Wirrköpfe, die im Sommer 1525 in Feldkirch die Stadt hatten niederbrennen wollen, wurden ebenfalls hingerichtet, angebliche oder tatsächliche Komplizen noch jahrelang verfolgt. Jos Wilburger, ein Geistlicher aus dem Bregenzerwald, des Protestantismus und der Aufwiegelei verdächtig, wurde ohne Verfahren auf Befehl des Erzherzog Ferdinand in einem Sack ertränkt.
Der einzige Einsatz unter Beteiligung aus den Herrschaften vor dem Arlberg war jener des Marx Sittich von Ems, der mit 2000 Landsknechten im Juli die Aufständischen im Hegau unterwarf, bestrafte und viele Dörfer – 24 sollen es gewesen sein – niederbrannte. Man ist über die Vorgänge im Jahr 1525 recht gut informiert. Es existierten damals schon bestens funktionierende Kommunikationsnetzwerke: Die Kanzleien des Hofrates in Innsbruck, des Schwäbischen Bundes, die Bischöfe, Äbte informierten sich laufend, auch die Vertreter der Gerichte, der Stände, der Kommunen benachrichtigten sich und auch die Bauernanführer unterhielten regelrechte Kanzleien, um sich zu informieren. Und schließlich hielten etliche Chronisten die Ereignisse fest.
Eine Massenhinrichtung von 50 Bauern bei der Bregenzer Klause wird für 1525 jedoch nirgends erwähnt. Alle Historiker, die sie wiedergeben, berufen sich auf die „Emser Chronik“ von 1616, die ihren knappen Text mit einem Holzschnitt schmückt: Man sieht einen Baum mit zwei Gehängten. Das 90 Jahre nach den Ereignissen von 1525/26 im Auftrag der Emser Grafen verfasste Werk gilt zwar als der erste Druck im Land, doch nicht als zuverlässige Quelle. Undenkbar, dass über eine Massenhinrichtung – auch 1525 nichts Alltägliches – nicht berichtet worden wäre. Selbst die grausame Verfolgung durch berittene Trupps des Schwäbischen Bundes beschränkte sich auf die Hinrichtung von Rädelsführern, auch die von Geistlichen, die den Bauern gepredigt und als Schriftkundige gedient hatten. Zwar wurden 1525 in den Kämpfen Bauern in großer Zahl getötet, auch Flüchtende wurden massakriert. Man machte kaum Gefangene, es sei denn, man wollte von ihnen Informationen. Völlig unüblich war jedoch die Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren außerhalb ihrer herrschaftlichen Zugehörigkeit.
Was hat den Autor Georg Schleh, beziehungsweise dessen Auftraggeber, im Jahre 1616 bewogen, diese erfundene Gräuelgeschichte in der reich bebilderten „Emser Chronik“ zu präsentieren? Wollte man unbotmäßigen Untertanen die buchstäbliche Rute ins Fenster stellen und sie daran erinnern, wie die von Ems mit Aufständischen umgehen konnten? Hat vielleicht die Hinrichtung der beiden Allgäuer „Rädelsführer“ im Jänner 1526 als Blaupause gedient? Vielleicht ist weiterführende Forschung in der Lage, das Rätsel der Henkeichen zu lösen, auch wenn es unmöglich ist, Belege dafür zu finden, dass etwas nicht stattgefunden hat. Die in der Emser Chronik auch erwähnte Glocke aus Hilzingen im Hegau dürfte tatsächlich noch lange in der Hohenemser Kirche geläutet haben. Sie wurde jedoch, Arnulf Häfele hat das bei Recherchen im Pfarrarchiv herausgefunden, 1857 eingeschmolzen.
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