Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Der Fanatismus der Massen

Februar 2025

Im vorarlbergmuseum ist noch bis in den April hinein die Sonderausstellung „Wir waren begeistert. Warum?“ zu sehen. Dort dokumentieren Bilder des NS-Fotografen Werner Schlegel (1908-1945) erstmals, dass sich auch in Vorarlberg breite Massen für den Nationalsozialismus begeistert hatten. Peter Melichar, Historiker im vorarlbergmuseum, im Interview.

Herr Melichar, im vorarlbergmuseum sind derzeit Bilder von Werner Schlegel zu sehen. Was macht denn diese Bilder so besonders? 
Die Bilder zeigen in einer bisher nicht gekannten Dimension nationalsozialistische Massenaufmärsche in Vorarlberg in den Jahren 1938, 1939 und 1940. Sie konterkarieren damit deutlich die in der älteren Literatur oft vorgebrachte Behauptung, dass der Nationalsozialismus etwas gewesen sei, was von außen auf Vorarlberg zugekommen sei; also etwas gewesen sei, mit dem man hierzulande ideologisch kaum etwas zu tun gehabt habe. Man hatte zwar zuvor schon gewusst, dass viele Vorarlberger Fabrikanten dem deutschnationalen, völkischen Lager nahe standen und auch in das Lager der Nationalsozialisten gewechselt waren. Aber auf diesen Bildern sieht man nun, dass sich nicht nur einzelne Personen, sondern eben auch breite Massen für diese nationalsozialistischen Masseninszenierungen begeistert hatten. Man sieht das an den Gesichtsausdrücken, an den ausgestreckten Armen, die da begeistert den Führern entgegengestreckt werden. Reichsjugendführer Baldur von Schirach wird enthusiastisch empfangen, Gauleiter Franz Hofer, aber auch andere wie etwa der Reichsstatthalter der Ostmark, Arthur Seyß-Inquart. Für die Vorarlberger Geschichtswissenschaft, auch für internationale Historiker, sind diese Bilder sehr interessant. 

Sind das denn die ersten Bilder dieser Art?
Nein. Es gab zuvor auch schon Bilder, die das zeigten. Aber das waren nur vereinzelte. In dieser Fülle ist es doch überraschend und neu. Sie sind auch insofern beeindruckend, als dass sich an ihnen die NS-Ikonographie recht deutlich analysieren lässt.

Auf den Bildern aus Bregenz, Dornbirn, Feldkirch, Bludenz und Schlins ist zu sehen, dass es zu richtig durchorchestrierten Auftritten, zu regelrechten Inszenierungen gekommen ist.
Das stimmt. Die Bilder zeigen durchkomponierte, durchorchestrierte Massenaufmärsche. Tage vor diesen Ereignissen sind in den Tageszeitungen Aufmarschpläne publiziert worden. Die Massen mussten organisiert werden. Man achtete sehr genau darauf, wie viele Menschen da durch die Straßen und auf die jeweiligen Plätze passten. Das ist umso beachtenswerter, als es sich etwa beim Dornbirner Realschulplatz oder beim Bregenzer Kornmarktplatz um sehr große Plätze handelte. Der Widerspruch zwischen den Planungen an sich und der dann doch sehr authentisch wirkenden Begeisterung der Massen überrascht.

Baldur von Schirach ist auf den Bildern zu sehen, auch der Führer der deutschen Arbeiterfront Robert Ley und Arthur Seyß-Inquart. Was führte denn diese hochrangigen Nationalsozialisten, die später im Nürnberger Prozess* angeklagt wurden, nach Vorarlberg? Hatten Nazi-Größen alle Teile und Gegenden des deutschen Reichs besucht?
Ja, zum einen das. Die Nazis beherrschten Propagandareisen und Propagandatouren. Hitler, der Vorarlberg selbst nie besucht hatte, hatte seine Wahlkämpfe ja mit dem Flugzeug geführt, um an möglichst vielen Plätzen in möglichst kurzer Zeit sprechen zu können. Die hochrangigen Nationalsozialisten, die Sie da erwähnen, kamen aber noch aus einem anderen Grund nach Vorarlberg: Um sich mit den hiesigen Industrieführern treffen zu können. Vorarlberg war aufgrund seiner hohen Industrialisierung und aufgrund der Bedeutung vor allem der Textilindustrie für die Nationalsozialisten sehr interessant. 

Könnten Sie bitte zwei, drei Bilder beschreiben, die illustrieren, was uns heute so unverständlich erscheint: Diesen Fanatismus, diese Begeisterung der Massen?
Ein Bild zeigt Bregenzer Bürger und Bürgerinnen, wie sie in historischen Gewändern bei der Begrüßung von Seyß-Inquart durch die Straßen marschieren und sich dabei zum Kasperl machen. Es ist ein eigenartig berührendes Bild. Auf einem anderen Foto beeindruckt wiederum die Masse an Jugendlichen, die Baldur von Schirach begeistert begrüßt und ihm die Arme entgegenreckt. Und ein weiteres zeigt, wie junge BDM-Mädchen dem Gauleiter Hofer begeistert zulachen und ihn angreifen wollen, obwohl Hofer rein äußerlich nun wirklich kein besonders attraktiver Mann war. 
Die Ausstellung trägt den Titel „Wir waren begeistert. Warum?“ Gibt es denn auch eine Antwort auf diese schwierige Frage?
Keine einfache. Eine Bemerkung vorweg: Der Titel spielt mit dem Slogan, den das Museum auf seiner Außenwand trägt: ‚Verstehen, wer wir sind.‘ Es handelt sich um ein ‚Wir‘, das in die Vergangenheit hineinreicht. Die Frage nach dem „Warum“ ist freilich die Generalfrage, die in allen wichtigen Werken zur NS-Geschichte gestellt wird. Die Geschichtsforschung verfolgt dabei zwei Hauptströmungen. Der erste Fokus lautet: War Hitler wahnsinnig? Und war dieser Wahnsinn der Auslöser für die Judenverfolgungen und den Weg in den Krieg und für alle anderen Verbrechen? Der zweite Fokus nimmt die biografischen Forschungen zwar auch ernst, stellt aber eine andere Frage: Selbst, wenn Hitler tatsächlich wahnsinnig gewesen wäre, warum war die Bevölkerung für seine Ideologie derart empfänglich? Da setzen strukturhistorische, wirtschaftshistorische, politikgeschichtliche, religionssoziologische Forschungen ein, die viele reichhaltige und interessante Ergebnisse gebracht haben, die in ihrer Fülle mit wenigen Worten aber schwer erklärbar sind.

Versuchen wir es dennoch?
Es war der Kampf der Generationen gegeneinander, also Jung gegen Alt. Es war die Abrechnung mit der Vergangenheit, mit dem Diktat von Versailles, mit der bitteren Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Hitler permanent versprochen hatte. Die Abrechnung mit den Siegern des Weltkriegs einerseits, vor allem aber andererseits mit dem inneren Feind, mit den Juden, den Sozialdemokraten, den Linken, die alle die Kraft des deutschen Volkes vergiftet hätten. Und natürlich ging es auch um das Versprechen, dass der Einzelne, wenn er sich denn an dieser Bewegung des Nationalsozialismus beteiligt, als Teil des großen deutschen Volkskörpers eine neue, persönlich bessere Zukunft bekommt. Das sind noch einigermaßen rational nachvollziehbare Motive. Aber dazu kommen auch religiöse Elemente. Der Begriff des Opfers ist dabei zentral. Permanent wird Opfer-Bereitschaft eingefordert. Und die einzelnen sind in der Tat bereit, das eigene, das selbständige Denken zu opfern. In jeder Religion hat der Begriff des Opfers eine zentrale Bedeutung: Dass man eben das eigene Denken opfern muss, um der Gemeinschaft der Gläubigen angehören zu können.

Zum Fotografen selbst. Wer war Werner Schlegel?
Diese Frage ist ebenfalls nicht so einfach zu beantworten. Werner Schlegel war ein junger, lebenslustiger Mann; er war Abenteurer, begeisterter Motorradfahrer und Alpinist, war auch ein Mitorganisator des Bregenzer Faschings. Seine Trachtenfotos sind noch in den 1950er und 1960er Jahren regelmäßig publiziert worden. Schlegel, der  in Bregenz eine Fotografenausbildung gemacht hatte, war der modernen Technik gegenüber sehr aufgeschlossen. Warum er aber ein derart begeisterter Nazi geworden ist, ist heute nur noch schwer zu ergründen, auch wenn seine Familie aus dem deutschnationalen Milieu stammte. Ich sage es so: Es wäre viel erstaunlicher gewesen, wäre Schlegel zum Regime-Gegner geworden. Denn auch er war, wie so viele andere junge Menschen damals, ein Kind seiner Zeit, enttäuscht von der Politik und dem Niedergang des Landes.

Werner Schlegel fiel im Jänner 1945 …
Eine Kernfrage dieser Ausstellung lautete: Wie stellt man Propagandafotos aus, ohne Propaganda zu machen? Wir haben uns dazu entschieden, dem etwas entgegenzuhalten: Die Anträge auf Kennkarten für Jüdinnen und Juden, ein Mittel der Verfolgung, aber auch Hunderte von Todesanzeigen gefallener Soldaten. Allein 8000 junge Vorarlberger starben , sie hatten wohl nicht gewusst, dass sie als Kanonenfutter an allen möglichen Fronten des Krieges, in Russland, in Finnland, am Balkan, wo auch immer, verheizt werden. Der Krieg und die unvorstellbaren Verbrechen der Nazis waren der Preis dieses völkischen Irrsinns.

Muss der Mensch, der ‚verstehen will, wer wir waren‘, diese Ausstellung ansehen?
Ich glaube nicht, dass eine einzelne Ausstellung wirklich in der Lage ist, zu einem tieferen Verständnis der Vorarlberger Geschichte beizutragen. Da müsste man sich schon tiefer damit beschäftigen. Aber wenn ein Besuch dieser Ausstellung zum Nachdenken, Lesen und Diskutieren anregt, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.

Vielen Dank für das Gespräch!

* Arthur Seyß-Inquart wurde zum Tod durch den Strang verurteilt und hingerichtet, Robert Ley beging im Gefängnis Nürnberg Selbstmord, Baldur von Schirach wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die drei waren unter den 24 Hauptangeklagten des Nürnberger Prozesses.

Sonderausstellung

Die Sonderausstellung „Wir waren begeistert. Warum?“ ist im Atrium des vorarlberg museums noch bis zum 6. April 2025 zu sehen.

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