Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Der Alemannenerlass von 1961

April 2024

Der Landesamtsdirektor Elmar Grabherr (1911–1987) war als oberster Beamter Vorarlbergs 1955 bis 1976 der Herr über damals etwa 1600 Bedienstete. Er wachte auch über die Aufnahme in den Landesdienst, die er selbstverständlich nicht in jedem Einzelfall kontrollieren konnte. Und so suchte er nach einer Möglichkeit, das Ausleseverfahren, das einer Aufnahme vorausging, nach seinen Vorstellungen zu reglementieren und juristisch abzusichern. Grabherr war in den 1950er und 1960er Jahren von der Sorge bewegt, Vorarlberg könnte von einer allzu großen Überfremdung bedroht werden. Damals waren allerdings noch kaum ausländische Gastarbeiter im Land tätig, das Anwerbeabkommen mit der Türkei existierte noch nicht. Arbeitskräfte, die von außerhalb kamen, stammten meist aus anderen Bundesländern, etwa aus der Steiermark oder Kärnten. 
Doch das genügte, um die Befürchtung auszulösen, dass die Kultur Vorarlbergs durch fremde Einflüsse vor allem aus dem Osten von Zersetzung bedroht werde. Und so kam der oberste Landesbeamte auf die Idee, in seinem Wirkungsbereich ein verwaltungsrechtliches Instrument zu entwickeln, um gegenzusteuern. Dabei ging es in erster Linie um die Aufnahme in den Landesdienst, aber auch um alle Möglichkeiten der Bevorzugung bei Ausschreibungen, bei Förderungen oder Auszeichnungen. Grabherr formulierte also zur Vorbereitung seines Vorhabens ein internes Rundschreiben, von ihm selbst als Erlass bezeichnet. Dieses Rundschreiben ging am 16. Mai 1961 an alle Abteilungen der Landesregierung, aber auch an alle nachgeordneten Dienststellen des Landes, auch an die Bezirkshauptmannschaften. Anlass war, dass es aus der Sicht seines Verfassers an einer rechtlichen Definition des „Vorarlbergers“ mangelte. Von einer „Vorarlbergerin“ war nicht die Rede. Der Versuch des Landes Vorarlbergs, eine Vorarlberger Landesbürgerschaft durchzusetzen, war 1952 vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt worden mit der Begründung, sie wäre verfassungswidrig, da jeder Bundesbürger nach Artikel 6 der Bundesverfassung „in jedem Lande gleiche Rechte und Pflichten habe wie die Bürger des Landes selbst.“ Neun Jahre später sollte hier nun der Begriff der „landsmannschaftlichen Herkunft“ Abhilfe schaffen. Gemeint war damit nach Grabherr, „ein engeres Verhältnis einer Person zu einem Bundesland.“ Dies werde, so der Verfasser, „in erster Linie bestimmt durch objektive Tatsachen wie Abstammung (siehe hier unter anderem auch Familiennamen), Geburtsort, einem Besitz des Heimatrechtes, langjähriger Aufenthalt, Beherrschung der Mundart usw.“
Das Rundschreiben forderte also die Ämter und nachgeordneten Dienststellen auf, „im Sinne föderalistischer Staatsauffassung“, den „Begriff der landsmannschaftlichen Herkunft in Zukunft überall dort zu verwenden, wo eine Beachtung der Bodenständigkeit von Personen sachlich gerechtfertigt erscheint.“ Außerdem wurden die Dienststellen des Landes gebeten, „die Anwendungsmöglichkeit des Begriffes der landsmannschaftlichen Herkunft zu prüfen und dem Präsidium vom Ergebnis Mitteilung zu machen.“ In dem Rundschreiben wurde der Begriff „Alemannen“ oder das Attribut „alemannisch“ nicht verwendet. Die Antworten der Dienststellen war einigermaßen ernüchternd und zeigten eine sehr beschränkte Einsatztauglichkeit des Begriffs und der damit verbundenen Durchführungspraktiken.
Eine Möglichkeit bot sich 1962 bei der Ausarbeitung eines Ehrenzeichengesetzes. Hier legte der Landesamtsdirektor Grabherr einen Entwurf vor, in dem die Entscheidung über die Verleihung von Orden und Auszeichnungen einem Gremium überantwortet sein sollte, das folgendermaßen zusammengesetzt sein sollte: „Der Landesehrenzeichenrat besteht aus dem Landtagspräsidenten, zwei Mitgliedern der Landesregierung, einem Bürgermeister und vier weiteren Mitgliedern, die mindestens 40 Jahre alt und ihrer landsmannschaftlichen Herkunft nach Vorarlberger sein müssen. Der Landesamtsdirektor hat das Recht, an den Sitzungen mit beratender Stimme teilzunehmen.“ Das löste Empörung aus. Die Salzburger Nachrichten reagierten am 30. Oktober 1962 mit der Schlagzeile: „Ehrenzeichengesetz in veränderter Form. Antrag der nichtalemannischen Vorarlberger unberücksichtigt?“ Der Abgeordnete Herbert Keßler (1925-2018, Landeshauptmann 1964-1987) musste den Entwurf rechtfertigen, konnte aber auch berichten, dass der Rechtsausschuss des Landtages einstimmig festgestellt habe, dass eine derartige Bestimmung zur Auswahl der Mitglieder des Ehrenzeichenbeirates gar nicht nötig sei. Der Bregenzer Bürgermeister Karl Tizian (1915-1985, Bürgermeister 1950-1970) – kein Freund von Grabherr – konnte wenig später in seinem Tagebuch befriedigt notieren: „Man wirft des LAD [Landesamtsdirektor] Formulierung der landsmannschaftlichen Zusammensetzung des Ehrenzeichenrates […] und seine ‚beratende Stimme‘ aus dem Gesetz heraus.“
Doch 1964 setzte Grabherr noch einmal nach und forderte neuerlich dazu auf, dem Erlass von 1961 nachzukommen. Wiederum waren die Reaktionen zurückhaltend. Das Landesarchiv antwortete, dass man bei Buchbinderarbeiten „seit je die landsmannschaftliche Herkunft der Auftragnehmer berücksichtigt“ habe. Die Abteilung für Seilbahn- und Aufzugstechnik bemerkte allerdings, dass der „Gedanke nur so lange zweckmäßig und sinnvoll“ sei, „als hiesige Arbeitskräfte noch aufzutreiben sind.“ Die Abteilung für Finanzen sah eine Anwendungsmöglichkeit nur bei den Wohnbauförderrichtlinien. Andere Ämter wiesen auf die Schwierigkeiten der Anwendung hin oder reagierten ablehnend.
Ende Juli 1964 kam es zur Entscheidung, den Erlass „als gegenstandslos“ zu erklären. Was war geschehen? Vermutlich dürfte es innerhalb der ÖVP harte Kritik an dem neuerlichen Vorstoß von Grabherr gegeben haben. Die öffentliche Blamage von 1962 war noch gut in Erinnerung. Zudem dürfte sich die Begeisterung der Dienststellenleiter in Grenzen gehalten haben. Es war klar: Die Auslese konnte viel flexibler ohne juristisches Korsett durchgeführt werden und ein Regelwerk für Einstellungen und Förderungen hätte Möglichkeiten zur Beeinspruchung geboten, die nun entfielen. Landeshauptmann Ulrich Ilg (1905-1986, Landeshauptmann 1945-1964) ordnete an: „Dieser Erlaß soll entweder schriftlich oder telephonisch als gegenstandslos erklärt werden. Ilg“ 
Die Geschichte hatte jedoch ein Nachspiel. Landesamtsdirektor Elmar Grabherr trat 1976 in den Ruhestand und initiierte in den Jahren danach die Bürgerinitiative „Pro Vorarlberg“, die 1980 eine Volksbefragung zu ihrem Forderungskatalog durchführen ließ. Im Rahmen der Debatte über Sinn und Zweck der Forderungen dieser Initiative nach größerer Autonomie des Landes kam es auch zu einer Diskussion im Vorarlberger Landtag, ausgelöst durch den Abgeordneten Arnulf Häfele (geb. 1946, 1974-1999 für die SPÖ im Landtag), der in einer Anfrage am 17. Dezember 1979 das Rundschreiben Elmar Grabherrs von 1961 erstmals – selbstverständlich in polemischer Absicht und nicht ohne Ironie – als „Alemannenerlass“ bezeichnete und die nicht unberechtigte Frage stellte, ob „tatsächlich keine wie immer geartete Benachteiligung von Mitbürgern nichtalemannischer Herkunft“ bestehe. Landeshauptmann Keßler reagierte empört, musste sich allerdings vorhalten lassen, dass er selbst noch 1962 im Landtag die Ansicht vertreten habe, es sei „im Interesse des Landes“ gelegen, wenn „der Begriff ‚landsmannschaftliche Herkunft‘ auf bestimmte Gebiete der Verwaltung, die für die Erhaltung des Vorarlberger Volkscharakters von Bedeutung sind, noch Verwendung findet.“
Zur Geschichte dieses als „Alemannenerlass“ bekannt gewordenen Rundschreibens gehört auch, dass es jahrelang nur als Kopie unter Historikern kursierte, immer wieder ohne Beleg zitiert und sogar als Faksimile abgedruckt wurde, allerdings im Landesarchiv als nicht auffindbar galt. So kam sogar zeitweilig der Verdacht auf, es könnte sich um eine Fälschung handeln. Erst Manfred Tschaikner hat den entsprechenden Akt vor einigen Jahren gefunden und zugänglich gemacht. Eine Fälschung war der Erlass keineswegs.

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